"next Practice" – 9. Auflage von Peter Kruses Klassiker

Best practice ist Game over. Aufs Next Level geht’s nur noch mit next practice. Heute braucht es dringend echte Prozessmusterwechsel statt reine Funktionsoptimierung. Nur so hat beispielsweise im Hochsprung der Wechsel vom Straddle zum Fosbury-Flop in einer Phase der Stagnation komplett neue Leistungshorizonte eröffnet. Wie das genau geht? Hier ein Praxisbeispiel aus Peter Kruses Managementklassiker next practice.

Wo immer Menschen unter Veränderungsdruck geraten, versuchen sie zuerst einmal, ihre bislang als erfolgreich erwiesenen Verhaltensweisen beizubehalten. Sie steigern zwar die Kraftanstrengungen, lassen sich dabei aber nicht wirklich auf eine grundlegende Veränderung ein. Ein kleines Experiment soll diese menschliche Eigenart im Umgang mit Veränderung veranschaulichen.

Rütteln an der verschlossenen Tür

Wird zum Beispiel eine Tür, die sonst immer offen war, eines Tages heimlich zugesperrt, so kann man typischerweise folgende Beobachtung machen: Versucht eine Person, die die Tür bis dahin immer unabgeschlossen vorgefunden hat, diese zu öffnen, so wird sie erst einmal irritiert innehalten. Lässt sich die Tür dann trotz gedrückter Klinke nicht bewegen, beginnt die Person meistens energisch an der Klinke zu rütteln. Diese Reaktion ist jedoch nicht logisch, weil schon nach wenigen Versuchen klar sein müsste, dass die Tür verschlossen ist und nach einem neuen Eingang gesucht werden muss. Die Reaktion ist aber psycho-logisch. Sie folgt dem fest verankerten Prinzip: »Klappt etwas nicht auf Anhieb, dann mach das, was du immer gemacht hast, nur ein wenig heftiger«. Alltagsbeispiele dafür gibt es viele. Sicherlich führt das Prinzip zuweilen auch zu einem erwünschten Ergebnis. Wenn die Anforderungen neu sind oder einen großen Leistungssprung erfordern, dürfte das schlichte Vorgehen nach dem Motto »mehr vom Selben« aber den Erfolg behindern oder sogar unmöglich machen.

Um Fehlverhalten zu vermeiden, müssen zwei verschiedene Arten der Veränderung getrennt betrachtet werden: Bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen macht es Sinn, zwischen Funktionsoptimierung und Musterwechsel zu unterscheiden.

Funktionsoptimierung: best practice

Die Funktionsoptimierung orientiert sich an best practice. So ist es bei einer mäßigen oder kontinuierlichen Erhöhung der Anforderungen möglich, die notwendige Leistungssteigerung durch die Verbesserung bestehender Verhaltensmuster zu erzielen. Veränderungsprozesse, die nach diesem Schema ablaufen, erzeugen die bekannte, typische Lernkurve. Zu Beginn des Lernens kommt es zu großen Verbesserungen. Nach der anfänglich starken Leistungssteigerung entsteht dann jedoch eine Sättigung. Um auch nur kleine Zugewinne in der Leistung zu erreichen, müssen fortan vergleichsweise große Anstrengungen unternommen werden – der »Deckeneffekt« tritt auf. Das alte Muster stößt gleichsam an die Grenzen der in ihm steckenden Möglichkeiten. Versucht man trotz des Deckeneffektes weiterhin, das alte Verhaltensmuster beizubehalten, öffnet sich die Schere zwischen Anforderungen und erzielbaren Ergebnissen immer stärker, und es droht die Erschöpfung der Kraftreserven.

Wenn wir mit völlig neuen Anforderungen oder der Notwendigkeit größerer Leistungssprünge konfrontiert werden, dann müssen wir, um Erfolg zu haben, bestehende Verhaltensmuster infrage stellen und gegebenenfalls verlassen. Gefordert ist dann eine radikale Neuorientierung und Neuordnung: Innovation.

Prozessmusterwechsel: next practice

Die zweite Grundform der Veränderung ist der Prozessmusterwechsel, der Übergang von best practice zu next practice. Ein Bereich der Gesellschaft, anhand dessen der Unterschied zwischen Funktionsoptimierung und Prozessmusterwechsel besonders anschaulich gezeigt werden kann, ist der Leistungssport. Er ist so etwas wie Wettbewerb in Reinkultur. Im Leistungssport fragt keiner danach, ob »immer höher, immer weiter und immer schneller« überhaupt ein sinnvolles Ziel ist. Im Leistungssport gewinnt derjenige die Goldmedaille, der den anderen die berühmte Nasenlänge voraus ist. Entsprechend versuchen Sportler unaufhörlich, die Leistungsgrenzen in einer Disziplin durch das Erfinden neuer Bewegungsmuster weiter hinauszuschieben, um sich so neue Dimensionen zu eröffnen. Die Beispiele dafür sind vielfältig. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist der Übergang vom »Straddle« zum »Fosbury-Flop« beim Hochsprung.

Nach dem Scherensprung war der Straddle über viele Jahre das dominierende Bewegungsmuster. Man sprang über die Latte, indem man sich vorwärts-seitlich darüber wälzte. Schließlich war der Grad der Beherrschung dieser Technik so hoch, dass bei Wettkämpfen nur mehr Millimeter über die Medaillenränge entschieden. Dann geschah 1968 das Unerwartete.

Neues Bewegungsmuster im Hochsprung

Während der Olympischen Spiele in Mexiko verblüffte der junge US-Amerikaner Richard Douglas Fosbury aus Portland/Oregon die Welt mit einer völlig neuen Art, die Latte zu überqueren. Fosbury lief außerordentlich schnell an, nützte seinen linken Fuß als Stütze, drehte sich dann an der Latte überraschenderweise um und sprang rücklings. Der Stil war so originell, dass man ihn sofort »Fosbury-Flop« taufte. Zunächst traute niemand dem Hochspringer zu, überhaupt die Qualifikation zu überstehen. Man hielt ihn für einen Spaßvogel, und die Regelexperten nahmen ihn nicht ernst genug, um etwa über eine Einschränkung oder gar ein Verbot des ungewöhnlichen Stils nachzudenken. Spätestens als Fosbury die Latte auf die Weltrekordhöhe von 2,29 Meter legen ließ, war das Erstaunen groß. Fosbury übersprang sie und wurde Olympiasieger.

An Beispielen wie diesem lassen sich einige grundsätzliche Besonderheiten solcher innovativen Vorgehensweisen aufzeigen. So sind next practices dieser Art oft an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Beim Fosbury-Flop war es die Benutzung von großen Kissen als Landefläche für den Springer. Ein Fosbury-Flop in eine Sandkuhle ist zweifellos nicht empfehlenswert. Außerdem werden neue Muster keineswegs begeistert angenommen, sondern eher misstrauisch beobachtet oder auch belächelt. Wer ein neues Muster einführt, geht immer ein hohes Risiko ein. Alle warten nur darauf, dass das Neue nicht erfolgreich ist. Sogar, wenn das neue Muster nachweislich neue Leistungsdimensionen eröffnet, ja selbst, wenn damit Wettkampfsiege errungen werden, fällt die Akzeptanz nicht leicht.

Prozessmusterwechsel sind risikoreich. Sie bewirken oftmals Abwehrreaktionen, da sie bestehende Verhaltensweisen infrage stellen.

Erst der Generationswechsel etabliert das Neue

Mitunter ist tatsächlich erst ein Generationswechsel nötig, wie Thomas S. Kuhn in seinem Werk Struktur wissenschaftlicher Revolutionen im Hinblick auf die Einführung neuer Denkansätze in der Wissenschaft zeigen konnte. Jeder weiß wohl aus eigener leidvoller Erfahrung, dass es ungleich schwerer ist, etwas bereits Gelerntes zu verändern, als den eigenen Lernprozess gleich mit einem neuen Muster zu beginnen. Noch vier Jahre nach der erfolgreichen Einführung des Fosbury-Flops in Mexiko sprang während der olympischen Spiele 1972 in München die Weltelite beim Hochsprung der Damen durchgängig den Straddle. Zur großen Frustration der österreichischen Weltrekordlerin Ilona Gusenbauer entschied damals völlig überraschend die bis dahin weitgehend unbekannte deutsche Gymnasiastin Ulrike Meyfarth das Finale für sich. Sie wurde Olympiasiegerin und egalisierte den Weltrekord mit dem neuen Stil des Fosbury-Flop.

Der Autor

Peter Kruse (1955-2015) war geschäftsführender Gesellschafter des Methoden- und Beratungsunternehmens nextpractice GmbH in Bremen und lehrte als Honorarprofessor für Allgemeine und Organisationspsychologie an der Universität Bremen. Über 15 Jahre untersuchte er als Hirnforscher die Komplexitätsverarbeitung in intelligenten Netzwerken. Der Schwerpunkt seiner beraterischen Arbeit lag in der Anwendung und praxisnahen Übertragung von Selbstorganisationskonzepten auf unternehmerische Fragestellungen. 2007 wählte ihn das Personalmagazin zum wiederholten Male in die Liste der 40 führenden Köpfe im Personalwesen.