"Lebendigkeit entfesseln" von Silke Luinstra
Alle reden von New Work, Agilität und Digitalisierung. Doch was bleibt von all diesen Ansätzen übrig, wenn der Scrum-Workshop zu Ende ist? Silke Luinstra beobachtet, wie wenig Lebendigkeit in unseren Organisationen spürbar ist. Aber sie weiß aus ihrer Arbeit heraus auch: Die Lebendigkeit ist oft vorhanden, ihre Entfesselung ist möglich. In folgender Leseprobe aus ihrem Buch Lebendigkeit entfesseln beschreibt die Autorin, warum es dabei auch um das Entfalten von Sinn geht.
Sinn entfalten
Selbstverständlich ist es für ein Unternehmen notwendig, auch ökonomisch erfolgreich zu sein. Wie könnte ich als Bank- und Diplomkauffrau etwas anderes behaupten? Nur habe ich den Eindruck, dass in vielen Unternehmen inzwischen »die Zahlen« zum zentralen Ziel, ja zum Sinn der Organisation geworden sind. Schlagen Sie einmal die Wirtschaftsnachrichten in Ihrer Tageszeitung auf: Aktienkurse, Gewinnwarnungen, nicht selten Skandale – in denen es häufig um unzulässige Methoden geht, Gewinne weiter zu erhöhen. Die Logik von Gewinnen, Renditen und Wachstum beherrscht das Denken und wird in der öffentlichen Diskussion nur selten infrage gestellt. In börsennotierten Unternehmen – und leider nicht nur dort – wird das Erreichen der Quartalszahlen zum Selbstzweck.
Geldverdienen ist wie Atmen
Rendite für die Eigentümer und Anteilseigner zu erwirtschaften bestimmt Entscheidungen und Aktionen. Auf Gewinne zu fokussieren, ist vielerorts so sehr zur Gewohnheit geworden, dass »gute Zahlen« an die Stelle des eigentlichen Sinns der Unternehmen getreten sind. Meine Position dazu ist ganz klar: Gewinnerzielung kann nicht der Sinn eines Unternehmens sein! Ebenso wenig wie wir Menschen auf der Welt sind, um zu atmen, sind Unternehmen da, um Geld zu verdienen. Bei Unternehmen wird das aber oft verwechselt. Einer der Ersten, der vehement auf diese Verwechslung aufmerksam gemacht hat, ist Götz Werner, der Gründer von dm.
Das war nicht von Anfang an so, zunächst war dm ein Unternehmen, in dem sich vieles dem wirtschaftlichen Erfolg unterordnete. Es ging um Ordnung und Produktivität. Das Harzburger Modell mit seinen Hierarchien, Stellenbeschreibungen und mechanischen Vorgehensweisen war lehrbuchmäßig umgesetzt. Bis ein Seminarleiter Götz Werner eine Frage stellte, die den Drogisten ins Grübeln brachte. dm war zu diesem Zeitpunkt längst keine kleine Drogerie mehr, sondern ein Filialunternehmen mit Niederlassungen in mehreren Ländern. Die Frage lautete: »Sind Sie für das Unternehmen da oder das Unternehmen für Sie?« Der Seminarleiter ergänzte noch zwei weitere Fragen, die es ebenso in sich hatten: »Sind die Kunden für das Unternehmen da oder das Unternehmen für die Kunden? Und die Mitarbeiter? Sind sie für das Unternehmen da oder umgekehrt?«
Diese drei Fragen waren für Götz Werner ein wichtiger Wendepunkt, wie er in seiner Autobiografie schreibt. Er vertiefte sich in die Anthroposophie, die sein Denken schon länger beeinflusste – er hatte zusammen mit seiner Frau die erste Waldorfschule in Karlsruhe gegründet. Er las viel über Erkenntnistheorie und reflektierte die Gedanken und Ideen, die aus dieser Auseinandersetzung hervorgingen, mit Vertrauten.
Als er schließlich vor seine Mitarbeiter trat und die Frage beantwortete, wofür dm da ist, hatte das mit Gewinnen nichts mehr zu tun. Er sagte: »dm ist da, um Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen sich entwickeln können.« Menschen waren Zweck, nicht Mittel, das war für Götz Werner inzwischen sehr klar geworden.
Das sagen viele, aber nur in wenigen Unternehmen ist das so klar spürbar wie bei dm. Vor über zehn Jahren hatte ich die Gelegenheit, dm aus der Nähe zu erleben. Im Rahmen eines der bei dm eher seltenen Beratungsmandate lernte ich die Logistikstandorte in der Nähe von Köln kennen. Das neue Verteilzentrum in Weilerswist war damals gerade im Bau. Ich unterstützte das Team um den damaligen Bereichsleiter Aus- und Weiterbildung Roberto Suarez Hutzler dabei, Moderatoren auszubilden, die während der Planung und Umsetzung Mitarbeitergruppen moderieren sollten. Diese Gruppen planten das neue Verteilzentrum gemeinsam und begleiteten den Bau.
Die Frage, wie Mitarbeiter in ihrer Entwicklung gefördert werden können, lief immer mit. Es ging einerseits darum, wie die Menschen sich in den Bauprozess so einbringen konnten, dass es für sie entwicklungsfördernd ist, zum anderen darum, wie das Verteilzentrum so gestaltet werden konnte, dass das Credo vom Menschen als Zweck Ausdruck findet und gleichzeitig effizienten Logistikprozessen dient. Wenn Sie in Weilerswist die Hallen betreten, werden Sie vermutlich erstaunt sein: Im Gegensatz zu vielen grauen und dunklen Lagern ist es hier hell und bunt. Das Gebäude wurde von einer Künstlerin, Melanie Stollsteiner, mitgestaltet. Ausgangspunkt der Farbgestaltung war der Mensch, es ging der Künstlerin darum, Vielfalt statt Monotonie auszudrücken, immer wieder Aufmerksamkeit in der Routine zu wecken und eine hohe Lebensqualität für alle im Verteilzentrum Tätigen zu schaffen.
Genauso überraschend wie die Farben war für mich, wie sehr die Prozesse so geplant wurden, dass sie auch zum Menschen passen. Roberto zeigte mir nach der Fertigstellung des neuen Verteilzentrums zum Beispiel die Arbeitsplätze in der Einlagerungsvorbereitung, an denen Kartons aufgeschnitten werden. Das konnte kein Roboter erledigen, zu groß war die Gefahr, dass er die Verpackungen von Haarfarbe und ähnlichen Produkten gleich mit zerschneidet. Also taten das Menschen, obwohl es den Planern lieber gewesen wäre, diese eher monotone Tätigkeit zu automatisieren. So saßen aber nun jeweils zwei Mitarbeiter an einem Band und öffneten die Kartons. Sie unterhielten sich dabei, und wenn sie mit ihrer Tätigkeit innehielten, stoppte das Band – das sich auch sonst immer der Arbeitsgeschwindigkeit der Mitarbeiter anpasst und nicht umgekehrt. Es wurden auch keine Kennzahlen am Band gemessen, kein Zähler mahnte ständig zur Eile.
Natürlich geht es bei dm auch darum, Geld zu verdienen – das Atmen ist bei dem Karlsruher Unternehmen genauso wichtig wie bei jedem anderen auch, nur erheben sie es eben nicht zum Sinn ihres Tuns. Ich glaube übrigens, das tun tatsächlich viel weniger Unternehmen als auf den ersten Blick sichtbar. Spreche ich zum Beispiel mit Familienunternehmern oder Gründern, so spüre ich sehr häufig, dass es nicht in erster Linie ums Geld geht. Da werden mit Leib und Seele Landmaschinen gebaut, Social-Media-Konzepte entwickelt oder Reinigungsmittel hergestellt.
Die Idee der Gewinnmaximierung hat sich also scheinbar viel mehr in unseren Köpfen festgesetzt, als sie wirklich gelebt wird. Aber allein die Tatsache, dass viele glauben, es ginge um Gewinnmaximierung, richtet oft Schaden an. Deswegen gehört die Frage nach dem Sinn explizit auf den Tisch, sonst geistert dieser Irrglaube weiter herum und verrichtet sein zerstörerisches Werk. Ich habe mehr als einmal erlebt, dass gute Initiativen wie zum Beispiel die, mehr flexible Arbeitsorte zu ermöglichen, in Misskredit gerieten, weil im Unternehmen die Vermutung herrschte, das würde nur getan, um den Gewinn zu maximieren. Wenn das »Wofür«, also der Sinn, stärker präsent ist, passiert das deutlich weniger. Bei dm habe ich solche Äußerungen jedenfalls selten gehört.
Der Sinn ist auch deshalb so wichtig, weil Menschen nach etwas suchen, womit sie sich verbinden können. Das wurde mir wieder einmal deutlich, als ich vor ein paar Monaten mit Christoph Kraller, damals noch Geschäftsführer der Südostbayernbahn, sprach. Der Mann ist passionierter Eisenbahner, wenn er zu sprechen beginnt, spürt jeder das sofort. Er berichtete mir in einem Gespräch von einem wichtigen Meeting, in dem er seine Kolleginnen und Kollegen von seinen strategischen Überlegungen überzeugen wollte. Christoph hatte sich intensiv auf diesen Termin vorbereitet, eine Präsentation zusammengestellt, in der er ZDF – Zahlen, Daten, Fakten – sorgfältig aufbereitet und Argumente zusammengetragen hatte. Ich bin sicher, Sie wissen, von welcher Art Präsentation ich spreche. Doch das lockte offenbar niemanden. Christoph war ratlos. War den anderen die Dringlichkeit nicht klar? Weshalb reagierten die nicht?
Ich vermutete, dass Sachargumente und Fakten alleine nicht ausreichen, um eine echte Anziehung zu ermöglichen. Oder nur kurz. Das ist dann eher so etwas wie Gier, wenn ich das Gefühl entwickle, ich könnte persönlich profitieren, wenn ich diese oder jene Entscheidung treffe. Doch diese Art Anziehung meinte ich nicht, sondern eine, die tiefer geht und emotionaler ist. Damit so etwas entsteht, braucht es ein echtes »Wofür« des Unternehmens.
Was Christoph bei unserer nächsten Begegnung berichtete, bestätigte mich in meiner Annahme: Er hatte im folgenden Meeting angefangen, davon zu sprechen, wofür es aus seiner Sicht die Südostbayernbahn gibt und wofür er persönlich jeden Tag aufsteht. Glauben Sie mir, wenn Christoph davon zu erzählen beginnt, ist seine Leidenschaft sofort spürbar, diesem Leuchten in den Augen kann sich kaum jemand entziehen. So ging es auch zwei Kolleginnen von Christoph, die ich wenig später zufällig traf. Sie erzählten sofort von diesem zweiten Meeting. »Das war … wow«, sagte die eine, »ganz anders als sonst. Da ging es nicht um Zahlen wie sonst so oft, sondern darum, wofür wir tun, was wir tun. Die Kraft, die dieses ›Wofür‹ hatte, war mit den Händen greifbar.« »Ja«, ergänzte die andere Kollegin, »und ich erinnere mich, dass einige von uns Tränen in den Augen hatten. Das war schon auch ungewohnt.« Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, mich hat diese Geschichte sehr berührt, denn sie erzählt von einer ganz anderen Art der Anziehung. Sie erzählt von der geradezu magischen Kraft, die sich entfaltet, wenn nicht nur Menschen, sondern auch ganze Organisationen tun, was sie wirklich, wirklich tun möchten.
Wofür Unternehmen wirklich da sind
Der Unterschied zwischen Organisationen, die eine echte Antwort auf die Frage nach dem »Wofür« haben, und denen, die darauf eher mit Kennzahlen antworten, wurde mir vor einigen Jahren binnen einer Woche sehr plakativ vor Augen geführt. Am Anfang dieser Woche war ich in Berlin, bei den Brandschützern von hhpberlin. Die kennen Sie bereits aus dem letzten Kapitel. Dort war sofort spürbar: Hier steht niemand morgens nur dafür auf, dass das Geld in der Kasse klingelt. Gefragt, wofür hhpberlin da ist, antworteten mir die Mitarbeiter – Ingenieurinnen genauso wie der Hausmeister – dass sie mit dem besten Brandschutz dafür sorgen, dass Menschen brennende Gebäude sicher verlassen können – und Retter möglichst gefahrlos ihrer Arbeit nachgehen können.
Dieser Satz hängt nicht etwa als »Mission Statement« an der Wand, er wird gelebt. Das haben wir »live« gespürt als wir für unseren ersten Film in Berlin gedreht haben. Das Strahlen in den Gesichtern der beiden Mitarbeiter, die gerade eine neue Idee für den Brandschutz in einem Spezialfall entwickelt hatten und davon erzählten, sehe ich noch heute vor mir. Da war für mich die Leidenschaft spürbar, mit der die Menschen bei hhpberlin immer neue Möglichkeiten austüfteln, Brandschutz weiter zu verbessern und damit unsere Gebäude und Städte noch ein Stück sicherer zu machen.
Nebenbei bemerkt: Mit diesen »Mission Statements«, die gerne bei Unternehmen an der Wand hängen, habe ich so meine liebe Not. Zu oft habe ich erlebt, dass tolle Sätze an der Wand hängen, aufwendige Kampagnen zur Verbreitung der Mission gestartet wurden – ich aber in der Organisation nicht entdecken konnte, wie das, was dort stand, im Alltag vorkam. Leider war ich da nicht die Einzige, auch den Mitarbeitern der betreffenden Häuser erschloss es sich meistens nicht. Zynismus und Resignation waren die Folge.
So ähnlich war es dann auch in der zweiten Hälfte der betreffenden Woche, als ich in einer großen deutschen Unternehmensberatung zu Gast war. Auch dort hatte ich meine Gesprächspartner nach dem Sinn ihrer Organisation gefragt, nach ihrem »Wofür«. Die Antworten reichten von zu erreichenden Quartalszielen über Aufzählung der Ziele aus der persönlichen Zielvereinbarung bis hin zu Sätzen, die so fast wörtlich im Geschäftsbericht standen – die ich jetzt nicht wiederhole, ich will schließlich niemanden in die Pfanne hauen.
Meine Gesprächspartner spürten offenbar meine Irritation, die ihre Antworten hervorgerufen hatten. Als ich sagte, dass für mich der eigentliche Sinn noch etwas anderes ist, merkte ich, dass ich offenbar einen heiklen Punkt getroffen hatte, jedenfalls wurden die Stimmen lauter und die Gesichtsfarben dunkler. Das gipfelte dann in einem Satz, den mir einer der Berater fast schon an den Kopf warf: »Ich würde das ja auch gern glauben, liebe Frau Luinstra! Aber im Business hat so was nun mal keinen Platz!«
Wir haben die Diskussion dann nicht weiter vertieft, aber ich weiß noch, dass ich damals auf der Heimfahrt im ICE dachte: Genau diese Haltung ist doch das Problem! Wir haben uns daran gewöhnt, dass es im Business nicht um Sinn geht, also denken wir, dass das eben so ist und nicht veränderbar wäre. Aber ich dachte zugleich auch daran, dass ich einem der Unternehmensberater in unserem Gespräch in einem Punkt sogar recht gegeben hatte. Er hatte zum Schluss eingeworfen, das mit dem Sinn sei doch ziemlich esoterisch und dieses ganze Gequatsche vom Purpose werde ziemlich überhöht. »Ja«, konnte ich da nur sagen. Aber ich sagte auch: »So meine ich Sinn auch nicht.« Es ginge mir um das »Wofür der Organisation«. Und ich vertrete damals wie heute den Standpunkt, dass Sinn in dieser Bedeutung eine wesentliche Rolle spielt.
Dieser Standpunkt wird seit meiner ersten Begegnung mit sysTelios, dem Gesundheitszentrum im Odenwald, auf besondere Weise gestärkt. Ich fragte in einem der ersten Interviews für unser Projekt AUGENHÖHE nach dem Sinn der Organisation. Die Antwort war, man wolle einen gesundheitsförderlichen Raum schaffen, und das nicht nur für die Klienten (die hier sehr bewusst so und nicht Patienten genannt werden, weil das schon eine Krankheitszuschreibung beinhaltet, die ausdrücklich abgelehnt wird), sondern für alle Menschen, die mit der Klinik in Kontakt sind, besonders die eigenen Mitarbeiter, aber auch Partner und Lieferanten. Die Aussage an sich war für mich schon bemerkenswert. In meinem Berufsleben hatte ich recht oft mit Institutionen im Gesundheitswesen zu tun, und es kam bis dahin nicht vor, dass die Belange der Mitarbeiter nicht nur mitgedacht wurden, sondern gleichwertig neben den Interessen der Klienten bzw. Patienten standen. Zu dieser Sicht auf die verschiedenen Stakeholder lesen Sie mehr im Kapitel »Augenhöhe anstreben«.
Für mich noch faszinierender war etwas anderes: Bei sysTelios wird stets gefragt, wofür etwas getan wird. Nicht warum, nicht wieso, nicht wozu – wofür. Die Kraft, die dieser Unterschied entfaltet, ist mir erst im Laufe der engen Kooperation mit den Kolleginnen und Kollegen von sysTelios in unserem gemeinsamen Ausbildungsprogramm AUGENHÖHEwegbegleiter so richtig bewusst geworden. »Warum« mochte ich schon länger nicht mehr, da ich immer wieder die Erfahrung gemacht habe, dass diese Frage vor allem Rechtfertigungen auslöst. Bei »wieso« trat dieser Effekt schon weniger auf. Doch beide Fragen führen in Begründungen, in die Vergangenheit – ich erfahre dann, aus welchem Grund etwas geschehen ist. Dieser Grund liegt zudem sehr häufig außerhalb der Person, die ihn anführt. Da werden »objektive« Zwänge benannt oder sachliche Argumentationen geführt.
»Wozu« ist schon mehr von einer anderen Sorte. Es ist nach vorne gerichtet. Für mich fragt »Wozu« nach konkreten, messbaren Zielen. Aber auch diese Frage bleibt eher außerhalb der Person, die sie stellt oder der sie gestellt wird. Wenn Sie zum Beispiel meine Kollegen und mich fragen, wozu wir unsere AUGENHÖHE-Filme machen, dann bekommen Sie vermutlich Antworten wie: »Wir möchten inspirieren und ermutigen. Wir möchten aufzeigen, was alles möglich ist.« Das ist alles etwas, was bei anderen – bestenfalls – passieren könnte, wenn sie unsere Filme ansehen. Fragen Sie uns aber, wofür wir tun, was wir tun, klingt das anders. Von mir hören Sie dann, dass ich einen Beitrag zu einer anderen Arbeitswelt, einem neuen Paradigma leisten möchte – meinen Kindern eine andere Arbeitswelt hinterlassen, als ich sie vorgefunden habe. Ich möchte mich zeigen, mich mit meiner Kraft, meiner Erfahrung und meinem Können einbringen und damit Menschen in Entwicklungen und Bewegungen einladen.
Die Frage nach dem »Wofür« geht über alle anderen hinaus. Sie meint denjenigen, der sich mit der Frage beschäftigt, immer auch selbst. Es geht letztendlich um meine Antwort, zu was für einer Welt ich beitragen möchte. Ich bin gefragt, diese Welt mitzugestalten. »Wofür« adressiert nicht nur konkrete Ziele, sondern eine Sehnsucht. Die Frage nach dem »Wofür« zu stellen, erzeugt auch wieder die Art von Magie, von der wir bereits sprachen. Das habe ich gerade vorgestern wieder erlebt. Ich stellte den Teilnehmern an einer Veranstaltungsreihe, die ich mit einer Kollegin schon vor über sechs Jahren ins Leben gerufen hatte, die Frage: »Wofür seid ihr heute Abend zu dieser Veranstaltung gekommen?« Ihre Antworten wie »Verbundenheit erleben«, »mich im Umgang mit Nichtwissen üben«, »weiterdenken« oder »Kraft tanken« waren schon eindrucksvoll genug. Doch noch viel stärker bleibt mir die Stimmung in Erinnerung – und die Tatsache, dass gleich fünf Menschen den Arm hoben, als es darum ging, für folgende Veranstaltungen die Organisation zu übernehmen. Das war in der Vergangenheit oft genug schwierig gewesen. Doch jetzt war etwas anders: Die Menschen wussten, wofür sie gekommen waren, und waren sofort bereit, einen Beitrag dazu zu leisten, dass dieses Format fortbesteht. Das ist – an einem kleinen Beispiel illustriert – der Unterschied, den Sinn macht
An dieser Stelle fragen Sie sich vielleicht, ob das, was ich gerade über die Notwendigkeit der Ausrichtung an einem »Wofür« gesagt habe, auch auf individueller, persönlicher Ebene gilt. Ja, aber … Ich erlebe immer wieder, wie kraftvoll es ist, wenn Menschen auf die Frage, wofür sie unterwegs sind, für sich eine Antwort haben. Sie dient ihnen als Ausrichtung, als Kompass und als Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten – ganz so wie der Squashpoint, von dem im Kapitel »Folgen für Menschen, Organisationen und Gesellschaft« die Rede war.
Weshalb nun ein »Aber«? Weil wir Gefahr laufen, das mit dem Sinn zu übertreiben und vor allem zu sehr auf die Arbeit zu beziehen. Die sozialen Medien, Zeitungen und Zeitschriften sind voll von Aufrufen, einen Sinn in der Arbeit zu suchen, nur wirklich sinnvolle Arbeit zu verrichten. Ich glaube, damit überhöhen wir die Arbeit, die ohnehin schon einen sehr großen Stellenwert in vieler Menschen Leben einnimmt. Da wäre es manchmal gut, sich den alten Goethe ins Gedächtnis zu rufen, der einst schrieb: »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst.« Frei übertragen könnte ich sagen: Wir sollten darauf achten, vor lauter Sinnsuche das Leben und das Atmen nicht zu vergessen.
Bei Organisationen liegt der Fall anders, sie kommen quasi von der anderen Seite: In unseren Unternehmen liegt Fokus viel zu sehr auf der Atmung, das bedeutet in deren Fall, sie fokussieren – zu – sehr das Geldverdienen. Da dürfte der Regler auf der Sinnskala gerne ein bisschen weiter nach oben rutschen. Das ist kein Kippschalter, kein Entweder-Oder, denn selbstverständlich bleibt das Geldverdienen weiterhin wichtig – nur eben nicht als Sinnersatz. Wer sich aber nur auf Sinn fokussiert und die Wirtschaftlichkeit aus den Augen verliert, ist am Ende zwar sinnerfüllt unterwegs – aber auch pleite. Unternehmen müssen Geld verdienen, Menschen müssen atmen – aber keiner von beiden ist auf der Welt, um das eine oder das andere zu tun. Es ist nicht ihr »Wofür«.