"Die Zukunft ist menschlich" von Andera Gadeib
Esskultur, Fehlerkultur, Musikkultur, Jugendkultur – Andera Gadeib findet, es ist höchste Zeit für eine Digitalkultur. Deshalb entführt sie Leser in Die Zukunft ist menschlich in ferne Länder und liefert inspirierende Eindrücke davon, wie Digitalität dort gelebt wird. Dafür stellt die Online-Enthusiastin jeweils drei Ausgrabungsstücke vor, die zeigen, wie das Digitale im jeweiligen Land gestaltet wird. Also dann, lassen Sie sich von Gadeibs Eindrücken inspirieren und finden Sie heraus, wie Sie zukünftig die Digitalität leben und aktiv anpacken können!
Silicon Valley
Groß denken – 10 x, nicht 10 %: Im Silicon Valley lernte ich vor allem eines: groß zu denken. Ich war 2013 frisch in den neuen Beirat »Junge Digitale Wirtschaft« von Philipp Rösler berufen, mit dem es sogleich im Regierungsflieger nach San Francisco ging. Wir besichtigten u. a. Google und bekamen einen Einblick in die sogenannten Moonshot Labs. Dort werden die großen Innovationen erdacht und umgesetzt. Man arbeitete an selbstfahrenden Autos oder am weltweiten Internet namens Loon, das auch entfernteste Gebiete per Ballon mit einer Internetanbindung versorgen will.
Nur wer groß denkt, erreicht auch Großes, so die Denke. Während wir hierzulande oftmals versuchen, inkrementelle Verbesserungen zu erzielen, die vielleicht 10 % besser sind als eine bestehende Lösung, so wird bei den Google-Moonshots zehnmal so groß gedacht.
Versuchen Sie es doch mal mit ihrem nächsten Projekt, so groß oder so klein es auch sein mag. Es muss gar nicht digital sein. Vielleicht nutzen Ihnen digitale Kanäle dabei, etwa um das Projekt bekannt zu machen oder die Finanzierung per Crowdfunding zu organisieren. Nehmen wir bspw. ein ehrenamtliches Engagement, sagen wir, in einem Fußballverein. Überlegen Sie sich Antworten auf die Frage: »Was wäre, wenn ich Spenden in zehnmal so großer Höhe generieren wollte?« Was würden Sie tun? Ich bin überzeugt, diese Art der Fragestellung öffnet unseren Blick für manch neue Lösung. Und das wäre, gerade bei einem solch guten Zweck, doch großartig. Lassen Sie uns groß denken!
Auf diese Weise sind Projekte wie der 100-Dollar-Laptop entstanden, um digitale Bildung auch in finanziell schwache Regionen zu bringen. Oder die 1-Dollar-Brille, erfunden und umgesetzt von Martin Aufmuth, der beschloss, die Welt zu verändern und Menschen in armen Ländern eine Sehhilfe zu geben, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Ein weiteres Beispiel stammt aus Indien: Der Augenarzt Govindappa Venkataswamy entwickelte ein OP-Verfahren, das Menschen in armen Ländern vor der Erblindung rettet. Sein Verfahren kostet ein Zehntel im Vergleich zum bisherigen internationalen Standard und wurde bereits etwa sieben Millionen Mal weltweit angewendet.
2 x »Ja, und«, 1 x »Ja, aber«: Ein weiterer starker Tipp: Wann immer Ihnen eine neue Idee präsentiert wird, antworten Sie erst zweimal mit »Ja, und«, bevor Sie »Ja, aber« sagen. Wir tendieren dazu, schnell Gegenargumente zu finden, und ersticken dabei möglicherweise gute, nicht gleich auf der Hand liegende Ideen im Keim.
Bleiben wir beim Beispiel der Vereinskasse. Sie sitzen mit Freunden zusammen und präsentieren Ihre neue Idee. Sie wollen bei der nächsten Spendenaktion zehnmal so viele Spenden wie bisher einsammeln und beginnen, erste Ideen zu präsentieren. Man könnte ein Festival auf dem Sportplatz veranstalten. Ihr Gegenüber sagt »Ja, aber das ist doch ein Riesenaufwand, bekommen wir das überhaupt gestemmt?« und »Ja, aber erlaubt das denn die Gemeinde?« usw. Wie wäre es mit »Ja, und das würde das Gemeinschaftsgefühl sehr stärken« oder »Ja, und es wäre sicher ein tolles Erlebnis, das uns lange in Erinnerung bleibt« oder »Ja, und das könnte ein regelmäßiges Event werden bei uns hier in der Ecke, wo das nächste Festival in weiter Ferne liegt«. Tolle Idee, oder? Nach dem zweiten »Ja, und« haben Sie so viel Dynamik, dass das »Ja, aber« die Idee nicht gleich umwirft und Sie voller Kraft weiterdenken können.
Mindset: Überzeugend fand ich die Aussage des Gründers eines Inkubators, der nach dem Erfolgsrezept des Silicon Valley gefragt wurde. Seine Antwort: Es ist nicht die geografische Location, sondern vielmehr das Mindset, also die Denkweise: Einfach jeder glaubt daran, dass er es schaffen kann. Glauben Sie fest daran, dass Sie es schaffen können. Ihr Glaube versetzt Berge. Denken Sie an das o. g. Zitat von Henry Ford.
Kapstadt
Südafrika ist bislang keine Nation, die für ein digitales Ökosystem bekannt wäre. Im Gegenteil. Immerhin ist das Schwellenland auf dem afrikanischen Kontinent wirtschaftlich am weitesten entwickelt und als einziges afrikanisches Land Mitglied der G20 Wirtschaftsmächte. Allerdings machen heute die reichen Bodenschätze wie Chrom oder Platin nahezu die Hälfte der Exporterlöse aus, während das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich zu den größten weltweit gehört. Mit 50 % Jugendarbeitslosigkeit fehlt gerade der jungen Generation eine Perspektive. Hier ist es besonders spannend, zu ergründen, wo die Digitalisierung Potenziale für den Einzelnen schaffen könnte. Coding und Entrepreneurship könnten genau in diesem Land fruchtbaren Boden schaffen. Schließlich bietet beides eine wahre Perspektive für jeden Einzelnen.
Begeistert habe ich vor diesem Hintergrund Kapstadt und Umgebung erkundet. Projekte wie die Inkubatoren »Bandwith Barn« der Citi(Cape Innovation & Technology)-Initiative, u. a. in Kayelitsha, einem der größten Townships in Kapstadt, sind ein wunderbares Beispiel, wie bewusst inklusive Innovation gelebt wird und Perspektiven für die sozial schwachen Bewohner der Townships geschaffen werden. Am zweiten Standort im angesagten Viertel Woodstock werden in großer Zahl »Data Scientists« ausgebildet, die eine der wichtigsten Kompetenzen im digitalen Zeitalter erlernen und damit beste Chancen am Arbeitsmarkt haben: große Datenmengen sinnvoll auszuwerten. Hier war es am schwersten, Erkenntnisse mitzunehmen, die den Nährboden einer digitalen Perspektive darstellen könnten, schließlich ist das Lebensumfeld so grundlegend anders und auch kaum vergleichbar mit den anderen betrachteten Kulturen.
Hilf dir selbst: In Südafrika erwarten die Menschen nicht, dass jemand anderes ihr Problem löst. Sie sind es gewohnt, ja, darauf angewiesen, selbst nach Lösungen zu suchen und originäre Lösungen zu finden. In diesem Schwellenland gibt es vieles nicht, das für uns selbstverständlich ist. Was zunächst eine negative und traurige Perspektive ist, könnte eine Chance werden. Genau hier, »aus der Not«, ergeben sich Gestaltungsmöglichkeiten. Ähnlich wie wir es bei der Unabhängigkeit als Motivationstreiber in Südkorea gesehen haben.
Halte dich nicht an Regeln fest: Die Menschen halten weniger an Regeln fest, so lernte ich. »Schaut euch den Straßenverkehr an, da seht ihr es.« Es gibt eine Kultur, sich nicht eingeschränkt zu fühlen oder jemand anderes die Regeln setzen zu lassen – was einerseits zu Unruhe und kriminellen Risiken führt, kann andererseits die Chance darstellen, selbst und unabhängig etwas Neues in Bewegung zu setzen.
Fülle die Lücken: Das Inkubatoren-Programm fokussiert auf relevante Geschäftsfelder, wie Finanzdienstleistungen, Bildung, Daten, Reisen, aber auch Spiele, Biotechnologie oder »Township Business«. Und es gibt erste Erfolge: Das mehrfach ausgezeichnete Start-up Khaya Power bringt Elektrizität in abgelegene und arme Gegenden. Early Bird Educare hilft Erziehern in der frühkindlichen Bildung beim Entwicklungsprozess der Kinder. Und die App SnapScan ermöglicht auch kleinen Shop-Inhabern das Bezahlen per Handy, dort, wo ein Vertrag mit einer Kreditkartenfirma möglicherweise nicht machbar ist. Gerade im Feld der Nachhaltigkeit liegen viele Potenziale. Ein Beispiel ist die Abalobi-App, die kleine Fischereien in Südafrika unterstützt, nachhaltig zu agieren.
Potenziale ergeben sich auch in Partnerschaften im Kleinen, wie bspw. in der Agenda-21-Partnerschaft der Städte Aachen und Kapstadt. Dort, wo bereits einige Projekte zum Beispiel zur Rettung von Pinguinen oder der Anlage von Nachbarschafts- oder Schulgärten erfolgreich etabliert sind, könnte die Vermittlung von digitalen und Programmierfähigkeiten für die Kleinsten eine gute Ergänzung sein.
In Regionen, in denen es an Wesentlichem mangelt, wird das Digitale möglicherweise den größten positiven Effekt erzielen können. Eines der Global Goals sind nachhaltige Städte und Gemeinden mit sicheren und bezahlbaren Unterkünften. Als Pilotprojekte gibt es bereits 3D-gedruckte Häuser, und ich frage mich, wie lange es wohl dauert, bis wir Häuser im großen Stil 3D-drucken können. Erste Ansätze machen große Hoffnung. Vielleicht ist dies eine zukünftige Verbesserung der Lebensbedingungen in Townships?
Die Autorin
Andera Gadeib ist Online-Enthusiastin und Vollblut-Entrepreneurin. Die Wirtschaftsinformatikerin und -wissenschaftlerin studierte an der RWTH Aachen, der Maastricht University/Niederlande (International Business Administration) und der George Mason University/USA (Computational Statistics, Virtual Reality Lab). 1999 gründete sie die digitale Marktforschungsagentur Dialego, die heute international für globale Blue-Chip-Unternehmen und starke Marken wie Bayer, Ritter Sport, Merz oder Sky Marktpotenziale entwickelt und Offices in Aachen, Hamburg, London, Paris und New York betreibt. Im November 2012 startete ihr zweites Start-up SmartMunk, ein skalierbares Softwareunternehmen für cloudbasierte Customer Intelligence. 2014 kam ein ganz neues Thema dazu: die Online-Tierheilpraxis lets-balance.de. Andera Gadeibs besondere Expertise liegt darin, digitale Werkzeuge sowie künstliche Intelligenz zu gestalten, datenbasiert Menschen zu verstehen und Empfehlungen zur richtigen Weichenstellung zu geben – für einen wirtschaftlichen und/oder gesellschaftlichen Impact. Seit Anbeginn ist Andera Gadeib berufenes Mitglied des Beirats Junge Digitale Wirtschaft im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), initiiert von Philipp Rösler, fortgeführt und erneut berufen von den Ex-Bundeswirtschaftsministern Sigmar Gabriel und Brigitte Zypries sowie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Der Beirat berät den Bundeswirtschaftsminister zur Stärkung der Digitalen Wirtschaft. 2016 wurde sie als Digitalexpertin in den Beirat Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes berufen. Seit November 2015 ist sie Vorständin des Bundesverbands IT-Mittelstand – bitmi. Auch Thomas de Maizière und Angela Merkel baten sie in der Vergangenheit bereits in kleiner Runde zum Austausch rund um das Thema Digitalwirtschaft zum Gespräch. Ihre unabhängige Expertise als Unternehmerin bringt sie zudem als ehrenamtliche Handelsrichterin am Landgericht Aachen ein. Andera Gadeib (Jahrgang 1970) ist Halbsyrerin mit doppelter Staatsbürgerschaft und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Aachen.