"Dialog statt Spaltung!" von Patrick Nini

Wissen ist eine Illusion. Genauso eine Illusion ist, dass wir alle permanent in echtem Kontakt sind. Per Messenger, Chat und E-Mail sind wir vernetzt, aber nicht verbunden. In seinem Plädoyer Dialog statt Spaltung! beleuchtet Patrick Nini, wie manipulative Kommunikation die Gesellschaft spalten kann und was es braucht, um Brücken zu bauen: nämlich Stützpfeiler wie Reflexion, Verständnis, Achtsamkeit und Mut. Wie wir bereits bei einzelnen Worten genauer hinschauen, erfahren Sie in folgender Leseprobe.

Genauer hinschauen und den „Rahmen“ hinter Wörtern erkennen

Die Sprache ist deshalb so machtvoll, weil viele Wörter meist nicht nur eine einzige Konnotation haben, sondern oft einen gesamten Deutungsrahmen. Diese Rahmen basieren auf unseren bisherigen Erfahrungen und lenken unbewusst unser Denken. Besonders in der Politik spielt der jeweilige Deutungsrahmen (oder: das Framing) eine wichtige Rolle. Abstrakte Begriffe, über deren Bedeutung keine Einigkeit herrscht und die entsprechend umstritten sind, werden von politischen Gegnern bewusst eingesetzt und mit einer jeweils eigenen Interpretation versehen. Das ist für uns jedoch eher selten direkt wahrnehmbar. Deshalb ist höchste Vorsicht geboten. »Asyl« ist eines dieser Wörter. Obwohl der Begriff eindeutig definiert ist – Aufnahme und Schutz für Verfolgte –, ist er in der politischen Debatte heute höchst umstritten und wird ganz unterschiedlich benutzt.

Aber auch weniger emotional besetzte Wörter werden nicht von allen Menschen gleich verstanden bzw. lösen ganz unterschiedliche Assoziationen aus. Denken Sie an das Wort »Abenteuer«. Für ein Kind hat ein Abenteuer eine völlig andere Bedeutung als für einen Erwachsenen. Die 1956 entstandene Theorie dahinter heißt »Essentially Contested Concept« und stammt von dem Sozialwissenschaftler Walter Bryce Gallie. Abstrakte Wörter bieten viel Spielraum für Framing, sie werden häufig durch Begriffe ergänzt, die Ängste oder Bedürfnisse auslösen. Denken Sie zum Beispiel an die Formulierung »Asylmissbrauch«. In diesem Fall wird das oben genannte, eindeutig definierte Wort »Asyl« durch einen Frame ergänzt. Missbrauch ist der widerrechtliche Gebrauch von allerlei Gütern, Positionen oder Lebewesen. Damit wird unterstellt, Asylsuchende hätten kein Recht auf jegliche Güter etc., obwohl das Asylrecht in der Genfer Flüchtlingskonvention genau geregelt ist und es im Grunde zu keinem Missbrauch kommen kann. Hinter den verwendeten (politischen) Schlagwörtern befindet sich entweder eine Metapher (ein sprachliches Bild) oder ein anderer Begriff, der eine Sache verschönert oder schlechter macht – uns also manipulieren will. Sehen wir uns an, in welcher Form solche Deutungsrahmen in der kommunikativen Praxis ihre Anwendung finden.

Metapher

Eine Metapher ist in der Lage, einen abstrakten Begriff durch Verbildlichung greifbarer zu machen und ihm auf diese Weise mehr Emotionalität zu verleihen. Wir können uns das Ganze dann viel besser vorstellen. Das Wort »Flüchtlingswelle« beinhaltet eine Metapher – nämlich die »Welle«. In der Physik ist die Welle als sich »räumlich ausbreitende periodische oder einmalige Veränderung eines Gleichgewichtszustands eines Systems« definiert. Das System ist im Sprachbild der »Flüchtlingswelle« offenbar der Staat und der Gleichgewichtszustand die Menge der Einwohner. Die Veränderung des Gleichgewichtszustands könnte das Bedrohungsszenario für diejenigen sein, die sich vor einer Flüchtlingswelle fürchten. Wir kennen Wellen von Spaziergängen am Meer und von Badeerlebnissen und wissen, dass diese eine unglaubliche Kraft besitzen können und nicht aufzuhalten sind. Und genau die Angst vor dieser unaufhaltsamen Kraft treibt die Flüchtlingsgegner an. Die Medien haben diesen Begriff recht unreflektiert übernommen und verbreiten somit den negativen Deutungsrahmen weiter.

Und diese Art des Framings geht noch weiter. Immer wieder warnen bestimmte Politiker vor einem neuen »Flüchtlingstsunami«, der auf uns zuzurollen scheint. Denkt man dabei an die dramatischen Bilder aus Thailand, als im Dezember 2004 die gesamte Insel Ko Phi Phi von einem Tsunami zerstört wurde, wird klar, was diese Politiker mit ihren bildgewaltigen Wortschöpfungen suggerieren möchten. Solche Deutungsrahmen werden bei ideologischen Themen meistens absichtlich von jenen vergeben, deren Agenda sie am meisten nützen.

Verschönerung

Auch Marketingabteilungen kennen diese Strategien und ersetzen unangenehme Sachverhalte gerne einfach durch attraktivere Deutungsrahmen. So hat sich im Bereich der Legehennenhaltung der Begriff »Bodenhaltung« etabliert. Auf den Verpackungen für Eier, die aus Bodenhaltung stammen, sind oft schönes gelbes Stroh und zwei glückliche Hühner abgebildet. Der Deutungsrahmen, den sowohl das Wort als auch das Bild implizieren, heißt übersetzt: Die Henne wird auf einem mit viel frischem Stroh bedeckten Boden gehalten und kann in der Halle frei herumlaufen. Der einzige Unterschied zur Freilandhaltung besteht darin, dass die Tiere sich in einer Halle befinden. Doch weit gefehlt. Dieser Deutungsrahmen hat nichts mit der Realität zu tun, in der auf einem Quadratmeter bis zu neun Hühner auf Stahlgittern gehalten werden, die Tiere massiv unter Stress stehen und ständig mit ihrem eigenen Kot in Berührung kommen. Warum verwenden wir also nicht den Begriff »Stahlgitterhaltung«, »Stresshaltung« oder gar »Kothaltung«? Dass die Hersteller diese Begriffe aus marketingtechnischen Gründen nicht verwenden, ist logisch. Was mir jedoch nicht klar ist: Warum übernehmen wir solche schöngefärbten Begriffe, ohne sie zu hinterfragen?

Verschlechterung

Wie sich Begriffe auch verschlechtern können, lässt sich gut am Beispiel der schweizerischen Volksabstimmungen zeigen. Die Initiativen und Referenden sind immer positiv formuliert; daher suchen die Gegner nach einer neuen Formulierung, die das Negative hervorhebt. Befürworter und Gegner organisieren sich in einem Komitee, das meist aus einer oder mehreren Parteien besteht und oftmals auch aus Interessensverbänden, die versuchen, für die jeweilige Position zu werben. Exemplarisch habe ich zwei Initiativen aus dem Jahr 2018 ausgewählt:

Man sieht deutlich, wie groß die Kluft ist, die sich zwischen Befürwortern und Gegnern alleine durch den verwendeten Deutungsrahmen auftut. Zwischen Diskriminierungsschutz und Zensurgesetz scheint sich nichts anderes zu befinden als ein tiefer Abgrund. Es gibt nur ein Entweder-oder. Auch bei der Selbstbestimmungsinitiative wirkt es, als habe man nur die Wahl zwischen totaler Selbstbestimmung oder der Verletzung aller Menschenrechte. Das ist nun mal das politische System in der Schweiz, möchte man meinen. Leider gibt es diese Kluft auch in Deutschland und Österreich. Man denke nur an die jeweiligen Oppositionsparteien, die gerne heftig polarisieren und indirekt die Botschaft aussenden, man könne entweder nur für oder nur gegen eine Sache sein. Die Grauschattierungen zwischen Weiß und Schwarz fehlen völlig.

Von Metaphern umzingelt

Nicht immer sind bewusste und manipulative Deutungsrahmen so einfach erkennbar. Im Grunde leben und denken wir doch alle in Metaphern. So haben es der Philosophieprofessor Mark Johnson (University of Oregon) und der ehemalige Linguistikprofessor George Lakoff (University of California, Berkeley) in ihrem 2003 erschienenen Standardwerk »Metaphors We Live By« (»Leben in Metaphern«) beschrieben. Wir brauchen diese Metaphern, um abstrakte Begriffe zu verstehen und einzuordnen. Denken Sie an Wörter wie »Wirtschaft«, »Inflation«, »Ausbildung«, »Liebe« oder »Argument«. Erst durch eine unbewusste Verknüpfung mit besser greifbaren Wörtern werden auch die abstrakten Wörter in unserem Gehirn verständlich. Dabei wird ein abstrakter Begriff (Quelldomäne) mit einem greifbareren Begriff (Zieldomäne) verknüpft. Wir merken dies gar nicht, da sich diese Verknüpfungen schon längst etabliert haben. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen »Conceptual Metaphor Theory« genannt.

Ich möchte Ihnen mit diesen Ausführungen gerne bewusst machen, wie sensibel Sprache doch ist und was sie bewirken kann. Die Aussage »Die Inflation frisst unsere Gewinne auf« wird beispielsweise mit dem Ziel verwendet, die Inflation in ein schlechtes Licht zu rücken. Man vergisst dabei schnell, dass eine gewisse Inflation erforderlich ist. Denn ihr Gegenteil – die Deflation – hat meistens eine Wirtschaftskrise zur Folge, da Menschen in dieser Phase damit beginnen, weniger zu konsumieren, weil ihr Erspartes nach und nach mehr wert wird. Selbst mit einfachsten sprachlichen Mitteln, etwa indem man aus dem »Euro« einen »Teuro« macht, lässt sich den Menschen suggerieren, dass die Einführung der neuen Währung ein rapides Ansteigen der Preise zur Folge hätte – und schon versammelt man neue Euro-Gegner hinter sich. Wir werden uns nicht gegen die Verwendung von Metaphern und Frames wehren können, sie prasseln von zu vielen Seiten auf uns ein und sind omnipräsent, sei es nun in Politik oder Werbung. Aber wir können immer wieder bewusst innehalten und achtsam wahrnehmen, was gewisse Headlines und Buzzwords in uns bewirken.

 

Verantwortungsvolle Kommunikation führt zu verantwortungsvollem Handeln, und nur dieses kann die Gesellschaft insgesamt weiterbringen. Mehr über den achtsamen Umgang miteinander und wie es gelingt, im modernen Alltag Brücken zwischen Menschen zu bauen, lesen Sie in Dialog statt Spaltung! von Patrick Nini.

Patrick Nini

Patrick Nini ist Vortragsredner und Kommunikationstrainer. Er ist seit langer Zeit politisch aktiv und hat das Kommunikationsverhalten von Politikern und wirtschaftlichen Playern in Österreich, Deutschland und der Schweiz analysiert. Er kennt die relevanten Werkzeuge für verantwortungsbewusste Kommunikation und durchschaut die Fallstricke verantwortungslosen Kommunizierens. Nini ist überzeugt, dass es gelingen kann, Brücken zu bauen und die Gesellschaft zu einen. 2019 war er Nationalratskandidat in Österreich, gehört jedoch heute keiner Partei als Mitglied an. Patrick Nini hat das Rhetorikmodell “Speech Pad” konzipiert und Speech5, einen digitalen Rhetorik-Coach entwickelt. 2017 erschien sein Buch Speech Pad: Warum gut präsentieren heute anders geht bei GABAL.