Interview mit Silke Luinstra zu „Lebendigkeit entfesseln“

In vielen Unternehmen herrscht nicht der gewünschte Geist von Inspiration, Kreativität und Kollaboration – das hat Silke Luinstra in ihrer Arbeit als Organisationsentwicklerin beobachtet. Stattdessen sind Fremdbestimmung und Konformität an der Tagesordnung. Silke Luinstra möchte das ändern und hat mit Lebendigkeit entfesseln ein Business-Buch über die Zukunft des Arbeitens geschrieben. Im Interview erzählt sie, was es braucht, damit echte Transformation gelingt – und woran die guten Absichten oft scheitern.

Frau Luinstra, es gibt zu wenig Lebendigkeit in unseren Organisationen, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was genau läuft da schief?

Ich höre Menschen sagen, wie sie engagiert ihr Bestes geben – und doch immer wieder frustriert werden, weil sie an internen Vorgaben, Prozessen und Strukturen hängen bleiben. Wenn zum Beispiel ein Verkäufer wirklich guten Kontakt zum Kunden hat, der aber noch einen Moment für seine Entscheidung bräuchte, und der Verkäufer aber gleichzeitig seine Monatszahlen erfüllen muss, drängt er den Kunden – der daraufhin abspringt. Kunde weg, Verkäufer frustriert. Wenn so etwas in Unternehmen Raum greift, spüren Sie das – ob als Kunde oder als Mitarbeiter. Es fühlt sich wenig lebendig an, wie gefesselt.

Schon in der Schule zeigt sich der Mangel an Lebendigkeit. Was muss sich ändern?

Zunächst einmal: Ich habe größte Hochachtung vor den Lehrerinnen und Lehrern, die täglich aufs Neue versuchen, Lebendigkeit in unseren Schulen möglich zu machen. Gerade in schulischen Strukturen ist es oft nicht einfach, mehr Sinnhaftigkeit und Selbstverantwortung zu leben. Und doch ist es machbar! Das lässt sich zum Beispiel an der Jenaplan-Schule in Jena studieren: Dort wird jahrgangsübergreifend gelernt, die Schülerinnen und Schüler gestalten viele Aspekte ihres Schulalltags selbst, wie etwa die Vorbereitung von Klassenreisen – und das bereits in der Unterstufe.

In Bezug auf Unternehmen haben Sie den Begriff der „neuen Neuen Arbeit“ geprägt. Ist New Work schon überholt?

Nein und ja. Wenn Sie sich die ursprüngliche Vision von Frithjof Bergmann, dem Begründer des Begriffs, anschauen, ist New Work aktueller denn je. Er wollte, dass Menschen tun können, was sie „wirklich, wirklich wollen“ und geht dabei so weit, das ganze System der Lohnarbeit infrage zu stellen. Diese Gedanken zu verfolgen, lohnt sich sehr! „New Work“ ist aber auch Synonym geworden für Dinge, die eher kosmetische Verbesserungen des Alten sind. Wenn flexible Arbeitszeiten, Homeoffice oder lustig-bunte Büros unter „New Work“ laufen, dann ist mir das zu wenig. Da braucht es eine neue Neue Arbeit. Eine, die Freiheit, Selbstständigkeit und Verantwortung genauso berücksichtigt, wie Teilhabe an der Gesellschaft, Solidarität sowie soziale und ökologische Folgen. Etwas anderes können wir uns auch schlicht nicht mehr leisten.

Warum fällt es Führungskräften oft schwer, Lebendigkeit in Unternehmen zuzulassen?

Da sind vor allem drei Aspekte entscheidend: Strukturen und Prozesse in Unternehmen sind mächtig, es ist alles andere als einfach, dort Veränderungen zu bewirken. Jede Organisation macht grundsätzlich erst einmal, was sie immer macht, und lässt sich von Menschen, die in ihnen arbeiten, nur zögerlich irritieren. Das zu versuchen, verlangt von den Akteuren Mut und bisweilen auch ein Infragestellen ihrer eigenen Denk- und Verhaltensmuster. Das kann auch bedeuten, die eigene Rolle – und damit einen wichtigen Teil der eigenen Identität – zu hinterfragen. Auch das ist nicht leicht und ich habe großen Respekt vor jedem und jeder, die es probieren. Der dritte Aspekt ist, dass oft eine Vorstellung davon fehlt, wie es anders gehen könnte. Und ohne so ein Bild fehlt die Energie, loszugehen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch acht Prinzipien für mehr Lebendigkeit in Organisationen. Bei welchem Schritt sollte man da ansetzen?

Darauf habe ich eine ganz kurze Antwort: Egal. Hauptsache, Sie fangen an. Etwas ausführlicher: Da die Prinzipien keine Schritte oder einen Stufenplan darstellen, sondern alle auch miteinander zusammenhängen, spielt die Reihenfolge eine untergeordnete Rolle. Im Umgang mit komplexen Systemen – wie Organisationen – können Sie ohnehin immer nur erproben, Auswirkungen studieren, wieder erproben usw. Es gibt kein Rezept. Lebendigkeit entsteht nur, wenn der Prozess dahin schon lebendig ist. 

Wie stehen die Chancen, dass sich in den Unternehmen bald etwas ändert – und wovon hängt das ab?

Ich glaube, die Chancen stehen gut. Diese Einschätzung mag meinem Optimismus geschuldet sein, doch durch meine Arbeit erlebe ich immer mehr, was sich in unseren Organisationen schon bewegt, oft an unvermuteter Stelle. Auch spüre ich bei immer mehr Menschen die Sehnsucht, anders zu arbeiten. Und Sehnsucht ist ein starker Motor.

Wirkt sich die Coronakrise eher bremsend oder beschleunigend aus?

Sowohl als auch. Beschleunigend, weil viele Menschen – u.a. durch vermehrtes Homeoffice – erleben, wie sich selbstbestimmtes Arbeiten anfühlt. Diese Erfahrung werden wir nicht mehr aus den Köpfen und Herzen löschen, und viele werden diese Art zu arbeiten nicht mehr missen wollen. Bremsend, weil es für Lebendigkeit auch echte Begegnung braucht. In Videokonferenzen können wir Sachthemen gut besprechen, doch wirklich als ganzer Mensch spürbar werden wir nur „in echt“ – auch wenn da virtuell mehr geht, als wir alle vor einem Jahr dachten. Und dieses „ganz da sein“ ist essenzieller Bestandteil der Lebendigkeit.

Sie haben Lebendigkeit in Organisationen zu Ihrem Lebensthema gemacht. Warum?

Weil es mich ärgert, wie viel Potenzial liegen bleibt, und weil es mich traurig macht, wie viele Menschen in ihrer Arbeit frustriert sind. Meinen Kindern möchte ich deshalb eine andere Arbeitswelt hinterlassen, als ich sie vorgefunden habe.