"Kopf zerbrechen oder dem Herzen folgen?" von Patricia Küll und Prof. Dr. Jörg B. Kühnapfel

Pro-und-Kontra-Listen schreiben und trotzdem zu keiner Entscheidung finden? In Kopf zerbrechen oder dem Herzen folgen? geben uns Patricia Küll und Prof. Dr. Jörg B. Kühnapfel universelle Herz- und Kopf-Tools an die Hand, mit denen wir doch zu einem Ergebnis kommen. Auf Zeitreise zu gehen, ist eine dieser Methoden, die das Herz rät. Und keine Sorge. Das klingt definitiv aufwändiger, als es ist. Lernen Sie jetzt Rosettas Dilemma kennen und gehen sie anschließend gemeinsam mit den Autoren auf Zeitreise.

Karriere oder nicht?

Rosetta (28) studierte Betriebswirtschaft und hat seit einigen Jahren einen Job bei einer Versicherung. Dort macht sie gehobene Sachbearbeitung. Seit sechs Jahren ist sie mit ihrem Freund zusammen, vor einem Jahr sind sie zusammengezogen. Kinder waren bislang kein Thema. Nun wird ihr eine Führungsposition angeboten (Talentförderprogramm). Doch dafür muss sie in einer anderen Stadt arbeiten. Ihr Freund hingegen ist beruflich gebunden und könnte nicht mitziehen.

Soll sie Karriere machen, dafür umziehen und eine Wochenendbeziehung in Kauf nehmen oder nicht?

Was rät das Herz?

Auf die Frage »Karriere oder nicht?« möchte ich Rosetta spontan und doch ein wenig kopfgesteuert zurufen: »Natürlich machst du Karriere. Wofür hast du studiert? Mach Karriere und verdien gutes Geld. Damit machst du dich unabhängig von einem Mann und sorgst selbst für deinen Lebensunterhalt und deine Rente.« Doch so einfach ist die Sache nicht. Weil wir Menschen unterschiedlich ticken, weil wir verschiedene Werte haben, weil uns unterschiedliche Dinge motivieren, antreiben und glücklich machen. Und genau das macht die Sache mit den Entscheidungen so schwer. Wir können auf keine Referenzentscheidungen zurückgreifen, weil kein Fall eines anderen zu hundert Prozent auf unsere Situation passt.

Im Chinarestaurant kann man vielleicht der »Intelligenz der Masse« vertrauen und das Gericht wählen, das am häufigsten bestellt wird. Aber bei allen anderen Entscheidungen kann jeder immer nur auf seinen eigenen Bauch hören. Und deswegen bringt es auch wenig, die beste Freundin, den Bruder oder einen Mentor zu fragen, was er oder sie tun würde. Andere Menschen haben andere Motive und gestalten deswegen ihr Leben auch anders. Es bringt einen viel weiter, wenn man weiß, worin der Sinn des eigenen Lebens liegt. Prof. Kühnapfel stellt weiter unten im Buch die These auf, der Sinn des Lebens liege für jeden Menschen darin, glücklich zu werden. Darin gebe ich ihm ohne Einwände recht. Doch die große Frage ist: Was macht mich glücklich? Je besser ich das für mich selbst weiß, desto besser kann ich Entscheidungen fällen, die mich wirklich zufrieden machen.

Rosetta hat vielleicht aber gerade schlaflose Nächte, weil sie ihre Entscheidung nicht einfach so fällen kann. Was tun, wenn man bereits mehrfach Pro-und-Kontra-Listen geschrieben hat, sich aber trotzdem keine Entscheidung fällen lässt? Was tun, wenn man glaubt, in einer Sackgasse zu stecken?

Auf individuelle Zeitreise gehen

In solchen Fällen kommt man mit scheinbar ungewöhnlichen Methoden weiter. Hier lassen wir Rosetta in die Zukunft reisen. Alles was sie braucht, um eine »Zeitmaschine« nutzen zu können, sind zwei bzw. drei Stühle. Jeder Stuhl steht für einen Zeitpunkt. Oft reichen bei einer Zeitreise zwei Stühle. Der eine steht für die Gegenwart, der andere für den Zeitpunkt, an dem man kurz vor Ende des Berufslebens steht. Da Rosetta noch so jung ist, würde ich einen dritten Stuhl empfehlen, der die Zeit »mittendrin«, wenn Rosetta also Mitte 40 ist, markiert.

Am Anfang ihrer Zeitreise setzt sich Rosetta auf ihren Gegenwartsstuhl. Hier kann sie für sich ihr Anliegen noch einmal formulieren. Das kann sie in Gedanken machen. Sie kann ihre Frage aber auch laut verbalisieren oder niederschreiben. Soll sie das Talentförderprogramm machen? Soll sie sich damit für Karriere entscheiden und in Kauf nehmen, dass sie die Stadt wechseln muss und aus ihrer Beziehung eine Wochenendbeziehung wird? Das sind die offensichtlichen Fragen.

Doch oft stehen hinter den Ausgangsfragen viel tiefer gehende Fragen. Oft treffen nämlich unterschiedliche Werte aufeinander und innere Konflikte sind die Ursache dafür, dass man keine Lösung findet. Bei Rosetta könnten hintergründig ganz andere Fragen eine Rolle spielen. Nämlich: Bringt der Umzug am Ende eine Trennung vom Freund mit sich, weil sich die beiden auseinanderleben werden? Das wäre nicht ganz unwahrscheinlich. Möchte sie das in Kauf nehmen? Daran hängt noch eine andere Frage: Wenn sie diese Beziehung aufs Spiel setzt, wird sie dann noch »rechtzeitig« einen anderen Mann finden, mit dem sie Kinder haben möchte? Und möchte sie überhaupt Kinder?

Hier ist es wichtig, dass sich Rosetta der Fragen, die »dahinter« stehen, bewusst wird. Am besten fragt sie sich selbst wiederholt, was der Karrieresprung und der damit notwendige Umzug noch bedeuten könnten.

Wenn Rosetta ihre Fragen – laut, leise oder schriftlich – formuliert hat, steht sie auf und setzt sich auf den mittleren Stuhl, der für das Jahr 2036 steht (wir schreiben gerade das Jahr 2019). Innerhalb von wenigen Sekunden kann sie Jahre in die Zukunft reisen. Dann ist Rosetta 45 Jahre alt und steht mitten im Leben.

Wenn Rosetta auf ihrem Zukunftsstuhl Platz genommen hat, geht es darum, sich einzufühlen. Das geht oft mit geschlossenen Augen am besten. Wie ist das im Jahr 2036 mit 45 Jahren? Rosetta soll sich vorstellen, sie hätte es geschafft. Vieles ist in ihrem Leben so gelaufen, wie sie es sich gewünscht hat. Und nun soll sie sich umschauen in ihrem Leben. Wie lebt sie im Jahr 2036? Wohnt sie in einem Haus oder in einer Wohnung? Ist es ihre Heimatstadt oder eine andere Stadt? Welche Menschen sieht sie um sich? Menschen, die sie schon aus ihrer Jugend kennt? Sieht sie Kinder? Was ist ihr im Alter von 45 Jahren wichtig? Sieht sie sich eher im beruflichen Umfeld stark eingespannt oder dominieren Themen?

An dieser Stelle ist es wichtig, alles, was kommt, einfach einmal zuzulassen. Oft begrenzen wir uns selbst und stoppen Wünsche schon im Ansatz, weil wir sie für völlig unrealistisch halten. Lassen Sie hier alle Bilder hochkommen, die erscheinen wollen. Sie sehen sich als CEO eines internationalen Unternehmens? Dann malen Sie sich genau aus, wie dieses Leben aussieht. Vielleicht haben Sie aber auch die Vision eines großen Hauses voller Kinder. Dann lassen Sie dieses Bild zu. Natürlich können wir die Zukunft nicht komplett vorbestimmen, aber wenn wir wissen, was wir wollen und was uns glücklich macht, können wir zumindest die richtige Richtung einschlagen.

 

Nachdem sich Rosetta in das Jahr 2036 eingefühlt hat, wechselt sie den Stuhl noch einmal. Der dritte Stuhl steht für das Jahr 2051. Dann ist Rosetta 60 Jahre alt und steht kurz vor dem Ausscheiden aus dem Berufsleben. Auch hier soll sie sich einfühlen und sich in ihrem Leben umschauen: Wie lebt sie und was ist ihr wichtig? Abschließend soll sie aus dem Jahr 2051 noch einmal zurückblicken auf das Jahr 2019. Damals hat sie als junge Frau mit der Entscheidung gerungen, ob sie das Talentförderprogramm mit all den möglichen Konsequenzen annehmen soll oder nicht. Wie betrachtet sie als 60-Jährige diese Entscheidungsphase? Wie beurteilt sie als Ältere die Gedanken, die sie sich als Jüngere gemacht hat?

Für Ihre individuelle Zeitreise können Sie auch andere Zeitpunkte wählen – je nachdem, welche Stationen im Leben für das Thema wichtig sind. Manchmal ist es sinnvoll, als ganz alter Mensch – kurz vor dem eigenen Tod – zurückzublicken.

Nachdem sich Rosetta in ihre jeweilige Zukunft gefühlt und notiert hat, was ihr zu diesen Zeitpunkten wichtig ist, setzt sie sich wieder auf ihren Gegenwartsstuhl. All ihr Wissen aus der Zukunftsreise nimmt sie mit in die Jetzt-Zeit. Nun soll sie auf dem Gegenwartsstuhl ihre Erkenntnisse, die sie in der Zukunft gewonnen hat, formulieren. Rosetta dürfte an diesem Punkt recht genau wissen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Vorausgesetzt, sie ließ ihre Visionen auf den Zukunftsstühlen ungefiltert zu. Wenn wir es schaffen, den Kopf- Filter auszuschalten und hellhörig für die Wünsche des Bauches zu sein, dann können wir vor unserem inneren Auge genau das sehen, was wir gerne machen und was uns glücklich macht. Natürlich ist das kein Bild, das sich 1:1 umsetzen lassen wird, denn wir wissen nicht, welchen Job oder welche Begegnungen mit Menschen uns das Schicksal schenkt, aber ein Trend lässt sich durch eine Zukunftsreise schon erkennen. Rosetta wird nach ihrem kleinen Ausflug tendenziell wissen, ob sie das Talentförderprogramm machen möchte. Wie es im Einzelnen in ihrem Leben weitergeht, wird die Zukunft bringen. Wichtig ist, dass sie für sich selbst herausfinden konnte, wie sie sich ihr Leben vorstellt.

Wenn Sie eine Zeitreise machen, achten Sie darauf, dass Sie die Bilder, die aus Ihrem Herzen entstehen, so bunt und detailliert wie möglich malen und sich das auch notieren. Lassen Sie nicht zu, dass der Kopf Grenzen setzt. Der engt uns oft unnötig ein. Ich vergleiche eine Zeitreise gern mit den großen Modenschauen in Mailand oder Paris. Das, was dort auf den Laufstegen zu sehen ist, wird selten genauso auf den Straßen getragen, aber es sind Anregungen. Und so ist eine Zeitreise auch zu verstehen. Sie bekommen in Ihrer Zukunft Anregungen für Ihr Leben in der Gegenwart. Davon wird manches nicht umzusetzen sein, aber genau deswegen sollen Sie sich Ihre Zukunft ohne jeden Filter vor Ihrem Auge ausmalen. Wenn Sie es dort groß werden lassen, können Sie ausreichend Impulse mitnehmen, die Sie in der Gegenwart umsetzen können.

Patricia Küll

Patricia Küll, M. A., ist Moderatorin, Fernsehredakteurin, Buchautorin und diplomierte systemische Coach. Ihr Wirken zielt darauf ab, allen Menschen den Weg zu einem gelingenden Leben zu zeigen. Daher stehen in ihren Büchern, Vorträgen und Seminaren die Themen Selbstreflexion, Selbstwirksamkeit und Selbstliebe im Mittelpunkt. Getreu ihrem Motto: Selbst.Bewusst.Leben.

Prof. Dr. Jörg B. Kühnapfel

Jörg B. Kühnapfel ist Professor für General Management an der Hochschule Ludwigshafen. In zahlreichen Büchern und wissenschaftlichen Beiträgen hat er sich mit Managementthemen, aber auch mit Glücksmanagement und Alltagsprognostik befasst. Er ist zweifellos Verfechter der als „ökonomischer Imperialismus“ bezeichneten Denkschule, die unterstellt, dass alles im Leben bilanzierbare Kosten und einen bilanzierbaren Nutzen hat.