"Evolution statt Revolution" von Anke Nienkerke-Springer

Nicht alles, was bisher gemacht wurde, war schlecht. Deshalb müssen Unternehmen das Rad nicht zwingend neu erfinden – auch nicht während der Corona-Krise. Denn aus ihrer 25-jährigen Beratungspraxis weiß Anke Nienkerke-Springer, dass es oft erfolgreicher ist, wenn sich Organisationen evolutionär entwickeln. Sie müssen sich nicht neu erfinden, sondern neu ausrichten, findet die Expertin für Kommunikation in Transformationsprozessen und Topmanagement-Coaching. Entdecken Sie in einer Leseprobe aus Evolution statt Revolution ein paar der sieben Prinzipien, mit denen Entscheidern die evolutionäre Entwicklung ihres Unternehmens gelingt.

Aus Fehlern lernen, eine konstruktive Lernkultur etablieren, den Menschen die Gelegenheit geben, etwas auszuprobieren, etwas zu versuchen, selbst wenn der Erfolg nicht zu 100 Prozent gesichert ist, »es« also auch scheitern kann – das ist mit dem evolutionären Prinzip des Ausprobierens gemeint, das mit dem Prinzip des lebenslangen Lernens in einem unmittelbaren Zusammenhang steht.

Übrigens: Dass die evolutionären Prinzipien in einem Kontext stehen, werden wir in diesem Kapitel noch des Öfteren feststellen. Der Grund: In einem evolutionären Unternehmen – die folgende Abbildung verdeutlicht dies – wirken die evolutionären Prinzipien wie in einem dreidimensionalen Netzwerk zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Damit ein Unternehmen erfolgreich ist und bleibt, müssen die Entscheider alle evolutionären Prinzipien im Fokus haben.

Das evolutionäre Prinzip des Ausprobierens

Zurück zum evolutionären Prinzip des Ausprobierens, für das eine intelligente Fehlerkultur, oder besser Lernkultur, Voraussetzung ist. Bereits in Kapitel 3 hieß es, eine Lernkultur zeichne sich dadurch aus, dass im Unternehmen Fehler vor allem als Anstöße zu intensiven Lernprozessen und zur Verbesserung interpretiert werden. So bildet sich nach und nach im Prozess des Learning by Doing ein Weg heraus, der zu einer sinnvollen Anpassung und letztendlich zu einer Verbesserung führt. Dieser Weg kann auch einmal über Seitenpfade führen, also Umwege nehmen, weil erst eruiert werden muss, welche Ursachen zu einem Fehler geführt haben.

Wichtig ist, dass ein Fehler oder ein Scheitern nicht ein resignatives Aufgeben nach sich zieht, sondern als Anstoß und Motivation genommen wird, es noch einmal aufs Neue zu versuchen.

Dies gelingt in einer Atmosphäre der gegenseitigen Wertschätzung und der Empathie, in der die Führungskräfte ihren Mitarbeitern vertrauen und ihnen zutrauen, eigenständig und selbstverantwortlich zu entscheiden und zu arbeiten, besser als in einem Klima, in dem Führungskräfte durch Verordnungen und Direktiven führen. Darum stehen in einem evolutionären Unternehmen die Menschen im Mittelpunkt (siehe dazu ausführlich Kapitel 8), die aufgrund des Vertrauens, das ihnen durch wertschätzende Führungspersönlichkeiten entgegengebracht wird, den Mut, die Kraft und die Entschlossenheit finden, bei Fehlern wieder aufzustehen und weiterzumachen. Die positive Unterstützung, die ihnen zuteilwird, lässt bei ihnen die Lust wachsen, sich komplexen Herausforderungen zu stellen und eine Trial-and-Error-Philosophie zu realisieren. Wenn im gesamten Unternehmen eine Lernkultur gelebt wird, bei der es durch den Grundsatz »Versuch und Irrtum« möglich ist, so lange verschiedene Problemlösungsalternativen auszuprobieren, bis die gewünschte Lösung gefunden wird, entsteht eine kreative Atmosphäre, bei der selbst drastische Fehlschläge in Kauf genommen werden. Denn auch eklatante Fehlschläge sind letztendlich vor allem Ausgangspunkte für neue Versuche, die doch noch zur gewünschten Anpassung und Veränderung führen.

Darum beschäftigen Sie sich bitte mit diesen Fragen:

  • Können Sie es akzeptieren, dass Fehler zum Lern- und Entwicklungsprozess dazugehören?
  • Was ist zu tun, damit Sie diese Einstellung aufbauen und zur Grundlage des Agierens in Ihrem Verantwortungsbereich machen können?

Das evolutionäre Prinzip der Baby-Steps

Revolution erfolgt in disruptiven Schüben und Sprüngen, die Evolution kommt gleichsam auf leisen Sohlen daher und schreitet gemächlicher und in kleinen Anpassungsschritten voran. Und sicherlich sind auch manchmal disruptive Schritte unerlässlich, etwa um wachgerüttelt zu werden und um notwendige Entwicklungen rasch umzusetzen – Irritation erzeugt Aufmerksamkeit. Sie muss nur verkraftbar sein. Die evolutionären Baby-Steps jedoch erfüllen eine andere Funktion:

Das Prinzip der Baby-Steps lautet: in kleinen Schritten zur großen Veränderung.

Wichtig ist, überhaupt erst einmal anzufangen – bei Laotse heißt es: »Auch der längste Weg beginnt mit einem ersten Schritt« – und dann kontinuierlich weiterzugehen, oder besser: weiterzumachen. Der erste Schritt ist dabei immer der schwerste. Wer jedoch erst einmal angefangen hat zu laufen, ist nicht mehr so leicht aufzuhalten. »Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße«, so drückt es der Schriftsteller Martin Walser aus.

Machen Sie sich also auf den Weg, oft geht es dann »wie von selbst« weiter. Und zwar sukzessive, Schritt für Schritt, unter Berücksichtigung und Bewahrung des Erreichten. Statt in hektischen Aktionismus zu verfallen, ist es zielführender, sich an den Buchtitel des Bestsellers von Sten Nadolny zu halten und »Die Entdeckung der Langsamkeit« zu nutzen und den Ausspruch Lothar Seiwerts »Wenn du es eilig hast, gehe langsam« zu beherzigen. In dem 1983 erschienenen Roman von Nadolny steht die Geschichte des britischen Seeoffiziers und Entdeckers John Franklin (1786–1847) im Mittelpunkt. Was uns im Zusammenhang mit den Baby-Steps interessiert: Nadolny thematisiert anhand der historischen Figur Franklins einen unzeitgemäßen Umgang mit der Zeit. Franklin ist ein langsamer Mensch, langsam in seinem Denken und auch langsam in seinen Bewegungsabläufen. Dafür erntet er Spott in einer Umgebung, die in der Epoche der industriellen Revolution ganz und gar auf Schnelligkeit ausgerichtet ist, mit einem eher bedächtigen und langsam evolutionären Voranschreiten Probleme hat und zwischen dieser Schnelligkeit und dem Erbringen von Höchstleistungen einen unmittelbaren Zusammenhang sieht. Franklins »Behinderung« errichtet zwischen ihm und seinen Mitmenschen eine unsichtbare Mauer. Doch die vermeintliche Schwäche wird zu einer Tugend und Stärke, die ihm in bedrohlichen Situationen weiterhilft.

Mithilfe seiner Langsamkeit, die ihm die absolute Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick erlaubt, und damit auf das, was zu tun ist und erreicht werden soll, rettet er sogar Menschenleben. In der Figur des Seefahrers setzt Nadolny der Zersplitterung der Zeit durch das Primat der Schnelligkeit und überbordenden Hektik eine Botschaft entgegen, die dem bewussten Leben in der Gegenwart und der langsam-evolutionären Schritt-für-Schritt Entwicklung ein kleines Denkmal setzt.

Die Konzentration auf den Augenblick und das, was notwendig ist, bildet das Fundament für das evolutionäre Prinzip der Baby-Steps: Die Kunst der Baby-Steps besteht darin, einfach den nächsten Schritt zu tun, und sei er auch noch so überschaubar, unscheinbar und klein. Wichtig ist, dabei nicht ständig zurückzublicken, sondern stets nach vorn zu schauen. Wenn Sie eine gerade Furche auf einem Acker ziehen wollen, ist es nicht hilfreich, ständig zurückzuschauen. Und indem wir uns überschaubare, aber realistische Ziele und Teilziele setzen, wird das Erreichen des »großen« Ziels immer wahrscheinlicher.

Das Prinzip der Baby-Steps ist ein Garant dafür, starten und kontinuierlich konzentriert bei der Sache bleiben zu können. Beschäftigen Sie sich in diesem Kontext darum mit den folgenden Fragen:

  • Welche Motivation ist notwendig, um ins Handeln zu kommen und anzufangen?
  • Was müssen Sie tun, um fokussiert und konzentriert bei der Sache zu bleiben?
  • Wie lässt sich der geplante Entwicklungsweg in kleinen Schritten zurücklegen?
  • Welche überschaubaren Verbesserungsschritte führen zum Ziel?

Anke Nienkerke-Springer

Die Management- und Organisationsberaterin Dr. Anke Nienkerke-Springer gilt als die führende Expertin für das Thema Change und Kulturwandel. Sie ist Geschäftsführerin und Inhaberin von Nienkerke-Springer Consulting (Köln, München). Sie berät, coacht und begleitet Unternehmenslenker, Geschäftsführer und Führungskräfte in Transformationsprozessen, bei der Unternehmensnachfolge und der Entwicklung einer „Personal Brand Strategy“. Ihr Fokus ist der erfolgreiche Umgang mit geschwindigkeitsgetriebenen Veränderungen wie der Digitalisierung, die zu immer mehr Orientierungslosigkeit und zunehmendem Druck führen. Sie bietet aufgrund ihrer Lebens- und Berufserfahrung Lern- und Entwicklungsräume und verhilft ihren Kunden zu mehr Fokussierung.

Sie entwickelt stabile Fahrpläne und individuelle Lösungen, mit denen Unternehmer und Führungskräfte nicht nur gelassen in die Zukunft gehen, sondern die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft des Unternehmens nachhaltig stärken können. Unternehmenslenker und Führungskräfte profitieren von ihren langjährigen Erfahrungen in leitender Funktion im klinischen Bereich, in komplexen Projekten, verschiedenen Organisationen und Branchen. Als Autorin und Speaker ist sie gefragte Expertin bei den Themen „Personal Brand“ und Unternehmenskultur, zu denen sie zahlreiche Beiträge veröffentlicht hat. Darüber hinaus ist sie zertifizierter Senior Coach (DBVC), Lehrender Coach (SG) sowie zertifizierte Beraterin für Persönlichkeits- und Organisationsinstrumentarien. Sie lehrt Führungs- und Managementmethoden und Unternehmensführung an verschiedenen Hochschulen.