Es gibt keinen hoffnungslosen Fall
Vor dem Können kommt das Wollen. Wer sich dem Mitgefühl gegenüber anderen verschließt oder denkt, bereits vollkommen empathisch zu denken und zu handeln, ist auf dem Holzweg. Hier erklärt Monika Hein, die nicht nur erfolgreiche Autorin, sondern auch promovierte Phonetikerin und Business-Trainerin ist, was die Empathie von uns fordert und welche unerwarteten Möglichkeiten sie uns bietet.
Empathisches Handeln erfordert eine innere Bereitschaft, vom eigenen Plan abzuweichen, Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer zu nehmen, sich und seine eigenen Bedürfnisse einen kleinen Moment zurückzustellen und letztlich weich und gütig zu werden. Und sie erfordert einen gewissen Forscherdrang, eine Neugierde auf das, was im anderen gerade vor sich gehen mag. Es kostet oft nur ein Lächeln, und schon ist die Situation gerettet. Für den, der sich für die empathische Variante entscheidet, fühlt es sich warm und freundlich an. Für den, der „gelesen“ wurde, fühlt es sich vertrauensvoll und geborgen an. Genau dieser Moment, diese Änderung der Richtung, diese Neuausrichtung des Gedankens und der Stimmung fällt vielen heute schwer. Wir wollen zu oft, dass es genau so läuft, wie WIR das wollen.
Barack Obama sagte in seiner berühmten Rede an der Xavier University in New Orleans im Jahr 2006:
„Aber ich denke, wir sollten mehr über unser Empathie-Defizit sprechen - die Fähigkeit, uns in die Schuhe eines anderen zu stellen; die Welt durch die Augen derer sehen, die anders sind als wir - das Kind, das Hunger hat, der arbeitslose Stahlwerker, die eingewanderte Frau, die unser Schlafzimmer saubermacht. Wenn Du weiter durchs Leben gehst, wird es immer schwerer, diese Qualität der Empathie zu kultivieren, nicht leichter. Es gibt keine öffentliche Anforderung, keiner zwingt Dich dazu, Dich zu kümmern. Du wirst frei sein, in einer Nachbarschaft zu leben, mit Menschen, die genauso sind wie Du, und Du kannst Deine Kids in die gleichen Schulen schicken und Deine Bedenken auf das herunterschrauben, was in Deinem kleinen Kreis vor sich geht. Nicht nur das - wir leben in einer Gesellschaft, die Empathie entmutigt. In einer Gesellschaft, die uns zu oft sagt, dass es unser Hauptziel im Leben sei, reich, dünn, jung, berühmt, sicher und unterhalten zu sein. In einer Kultur, die zu oft diese selbstsüchtigen Impulse stärkt.“
Selbstsüchtig. Das sind wir heutzutage. Immer mehr, immer öfter. Die Liste der Situationen, in denen ich mir für unsere Welt mehr Einfühlung, weniger Selbstbezogenheit wünsche, ist lang. Wir erleben es täglich, dass die Egos aufeinanderprallen. Doch wenn wir uns auf den Mangel an Empathie in unserer Gesellschaft fokussieren, können wir schnell den Mut verlieren - schauen wir doch lieber auf die ungeahnten Möglichkeiten, die sich hinter diesem kleinen Zauberwort verstecken.
Ist Empathie lernbar?
Eine berechtigte Frage lautet immer wieder: Kann man Empathie eigentlich wirklich lernen? Ich weiß aus eigener Erfahrung mit meinem ersten Freund: Ja, das kann man. Und in welchem Maß man das kann, hat mich sehr berührt.
Nun, Jürgen Engel war mein erster Freund. Ich war 16 Jahre alt, er ein Jahr älter. Wir verliebten uns ineinander, kamen zusammen. Irgendwann häuften sich unsere Konflikte, oder sagen wir besser: Rangeleien. Nach etwa zwei Monaten trennte ich mich von ihm, weil der Kontakt zwischen uns etwas anstrengend geworden war: Jürgen ließ keine Gelegenheit aus, mich aufzuziehen, mich zu ärgern, sich über Dinge aufzuregen, die ich tat oder sagte. Das gefiel mir nicht. Nach der Trennung wurde in der gemeinsamen Clique auch noch ordentlich über mich hergezogen: Wertschätzung war damals Fehlanzeige.
Viele Jahre später sah ich auf der beruflichen Plattform XING, dass Jürgen dort mit seinem Profil beigetreten war. Er lud mich zu einem Seminar „Kommunikation für Frauen“ ein. Wenig später las ich eine weitere Einladung: „Gewaltfreie Kommunikation“. Ich war verblüfft: Mein damals etwas unfreundlicher, knurriger Exfreund gab nun Kommunikationskurse, noch dazu über wertschätzende Kommunikation?
Diese Information beschäftigte mich einige Tage lang, und als mich der Gedanke nicht losließ, beschloss ich, ihm zu schreiben. Einige Zeit später besuchte ich mein erstes Seminar bei ihm, einen Workshop zum Einstieg in die Gewaltfreie Kommunikation. Wir kamen ins Gespräch über seine Verwandlung:
Ich frage ihn: "Kann man Empathie also lernen?"
„Sagen wir mal so: Ich habe noch keinen hoffnungslosen Fall erlebt. Ich war früher anders - es gab wenig Empathie, das weißt Du ja. Genauer gesagt: Bis vor zwölf Jahren gab es bei mir noch sehr wenig Empathie. Dann traf ich auf Marshall B. Rosenberg.
Also: Ja, man kann es lernen. Es ist in jedem Menschen angelegt. Kleine Kinder sind empathisch, Kinder fühlen mit, sie sind da völlig unverbraucht. Es ist völlig normal für sie, wie ein Reflex. Empathie muss also erstmal nicht neu gelernt werden. Sie wird aber immer mehr zugedeckt im Laufe unseres Erwachsenwerdens, durch die Erziehung. Es werden viele Schichten auf unser unschuldiges Sein gelegt. Dann kommen Krusten und Schutzpanzer obendrüber. Ich als Mensch bekomme weniger und weniger Zugang zu meiner Empathie. Weil ich Erlebnisse hatte, in denen mir Leid angetan wurde. Situationen, in denen ich mich offen und verletzlich zeigte und dann einen draufbekommen habe. Da fange ich natürlich an, mich zu schützen, denn das sind kleine Traumata.
Das muss noch nicht mal so etwas Schwerwiegendes wie ein Missbrauch oder Ähnliches sein. Es reicht oft schon, wenn ich dafür angeschrien werde, dass ich mich offen gezeigt habe. Das reicht schon, um zu merken: „Oh, das ist gefährlich, das werde ich nicht mehr machen.“ Dann werde ich hart in mir.“
Wie können wir diese Schichten ablegen?
„Es braucht viel Mitgefühl, um das zu heilen. Das dauert lange. Und es braucht eine neue Erfahrung, ich muss sozusagen die Festplatte überschreiben. Es ist ein langer Weg, ein manchmal schmerzhafter Weg.
Dafür muss ich viel Selbstempathie haben, aber ich brauche auch Empathie von außen. Ich selbst brauche viel Empathie von anderen Menschen, das kann ich oft nicht alleine. Es allein zu können, ist ein hoher Anspruch, den möchte ich nicht haben. Wir brauchen einander. Vertrauen spielt eine immens große Rolle. Es ist ein ständiges „Sichöffnen“, von meinen Ängsten und Schmerzen zu erzählen, und dabei immer wieder die Erfahrung zu machen, dass es okay ist, dass ich so fühle. Dass die Verletzlichkeit da sein darf.“
Kann man Empathie lernen? Ja, das Beispiel meines Freundes zeigt es. Empathie ist lernbar. Die Hirnforscherin Tania Singer und ihr Team haben eine Langzeitstudie ins Leben gerufen, mit der sie die Wirkung von Empathie- und Mitgefühlstrainings untersucht. Hier wird ebenfalls deutlich, dass wir diese Fähigkeiten aktiv trainieren können, wobei es in der Studie Unterschiede zwischen den Ausprägungen „Empathie“ und „Mitgefühl“ gibt.
Mein Anliegen ist es, Anstöße zur Empathie zu geben, Empathie buchstäblich zu üben. Die Schutzpanzer langsam zu lösen. Die Idee mit Ihnen weiterzuentwickeln, offener dafür zu werden, wie es anderen gerade gehen mag. Herauszufinden, welche Gefühle wir in vielen Situationen beieinander auslösen, ohne es zu wissen. Ich möchte anregen, dass wir uns wieder mehr Mühe geben und uns fragen: Wo ist der andere gerade? Wie geht es ihm? Dass wir überhaupt in Betracht ziehen, dass andere auch ganz anders fühlen und leben können als wir. Das ist manches Mal gar nicht so einfach. Zetteln wir gemeinsam eine Empathie-Revolution an!
Die Autorin
Dr. Monika Hein ist promovierte Phonetikerin, Business-Trainerin und Business-Coach sowie als Stimm-Expertin auf Deutschlands Bühnen unterwegs.
Sie trainiert seit 2004 Menschen aller Branchen in Sachen Stimme, Sprechen und Auftreten. Den Anfang ihrer Freiberuflichkeit machte sie in der Arbeit mit Schauspielern und Sprechern – dies waren wichtige Lehrjahre in der Tätigkeit der Autorin. Schauspieler fühlen sich in ihre Rollen ein und verkörpern diese. Empathisches Sprechen steht im Zentrum der Arbeit.
Diesen Ansatz adaptierte sie für Menschen aller Berufsgruppen. Denn: Im Alltag ist es meist mit einem schönen Ton noch nicht getan. Oft liefert erst die Einfühlung in andere den Schlüssel zu einer wertschätzenden Kommunikation. Wenn wir uns selbst und andere verstehen und miteinander fühlen können, gelingen Situationen besser – ob im Beruf oder im Privatleben.