Das pure Leben spüren

Das pure Leben spüren ist kein weiterer Ratgeber zum Thema „Lebe Deinen Traum“ oder „So machen Sie Ihr Leben besser“. Vielmehr möchte Barbara Messer Sie mit ihrer neuesten Lektüre auf eine (Lese-)Reise mitnehmen, die zu mehr Achtsamkeit, Freiheit, Ordnung und vor allem Unabhängigkeit führt. Wie man sein Leben sowohl materiell als auch geistig entrümpelt, verrät sie in ihrem neuesten Werk. Von den Anfangsschwierigkeiten des Loslass-Prozesses berichtet sie hier:

Loslassen und weggeben

Ich löse meinen Haushalt auf, verabschiede mich von zahllosen Dingen. Nicht einfach, aber es hilft mir, Dinge an Menschen zu geben, die ich mag. So habe ich das Gefühl, sie können dort gut weiterleben. Anderes verkaufe ich mit Freude und Spaß. Dazu gehören mehrere Samstagsmorgenflohmärkte in Hannover am Leineufer. Dort kann ich sehen, mit welcher Freude sich Kinder oder auch Erwachsene bestimmte Dinge aus meinem dort auf den ausgeklappten Tapetentischen präsentierten Fundus aussuchen. Dadurch gewinne ich eine Vorstellung, was sie damit machen oder wozu sie dies und das gebrauchen können. Meinen großen Stofftierhai bekommt ein Kind, welches diesen gar nicht mehr loslassen wollte. Die vielen Tassen, die sich in vielen Jahren bei mir angesammelt haben, leben jetzt in anderen Küchen weiter. Besondere Höhepunkte dieses Loslass-Prozesses sind die beiden Hausflohmärkte, die ich abhalte.

Der erste wird noch recht holprig; ich habe keine Ahnung, wie ich einen solchen Verkauf über drei Etagen und gut sieben Räume managen soll. Beim zweiten ist es einfacher, zumal auch die Zimmer schon leerer sind. Viele Nachbarn sind beim zweiten Mal dabei, sie suchen sich ganz bewusst Dinge aus und ich kann sie dadurch gut hergeben, auch mein Bett zum Beispiel.

Manches landet auch auf dem Recyclinghof in den Containern oder im Sperrmüll. Anderes gebe ich ins Soziale Kaufhaus. Das hilft Menschen, die sich keine neuen Möbel leisten können oder auch gar keine neuen Möbel haben wollen. Das gibt es ja auch noch – diese wunderbaren Taten, um dem steten Konsumwahn eins auszuwischen. Ein ganz besonders schöner Schritt ist die Auswahl der Dinge, die mit ins Wohnmobil kommen sollen. Welche Alltagsgegenstände, welche Erinnerungen wie z.B. Fotos oder so, können mit und können dort auch so angebracht oder untergebracht werden, dass sie ihre angenehme und wohltuende Wirkung verbreiten können? Was wird eingelagert?

Einlagern – ein großes Stichwort. Da ich noch nicht genau weiß, wie lange ich wirklich unterwegs sein werde, weiß ich auch nicht wirklich gut, wie ich das mit dem Einlagern der absolut wichtigen Möbel und Dinge machen soll. Bleibe ich drei Monate, ein halbes Jahr oder sogar ein ganzes? Aber in jedem Fall gilt es zunächst, das Haus freizuräumen, sodass es verkauft werden kann. Wo es danach hingehen soll, weiß ich noch nicht.

Erinnerungen

Jede Tasse, jeder Brief, jedes Buch, alles nehme ich im Laufe des Ausräumens in die Hände, um es nach unterschiedlichen Kategorien zu sortieren:

-          kann auf den Müll

-          wird verschenkt

-          wird verkauft

-          soll mit ins Wohnmobil

-          kommt ins Basislager bei N.s Eltern

-          wird eingelagert

-          wird im Garten in der Feuerschale verbrannt

Immer wieder packt mich eine Versonnenheit, eine Verlangsamung, ein Dahin-Träumen, wenn mich der Gegenstand, den ich da gerade in den Händen halte, an etwas Bestimmtes erinnert: Kisten voller Liebesbriefe, die Briefe, die ich meiner Mutter von der langen Neuseelandreise schickte, die ersten Schuhe meiner Tochter, das Pixibuch vom Schellenursli, welches mich an meine Stiefmutter erinnerte, diverse Muscheln und Steinsammlungen aus den verschiedensten Urlauben, Milchzähne meiner Tochter, ein Schnipsel Gummiband, eine bunte Perlenkette, Spielfiguren, Bernsteinschmuck aus Moskau, ein Topflappen, den meine Tochter voller Geduld für mich gehäkelt hat.

Und so hangele ich mich von Gegenstand zu Gegenstand, von Erinnerung zu Erinnerung.

Will ich die Dinge weiter um mich haben? Werde ich sie vermissen, wenn ich sie einlagere? Brauche ich sie wirklich noch? Manchmal laufen mir die Tränen über die Wangen, so nah gehen mir die Erinnerungen. So viel Leben liegt schon hinter mir, so viel Fülle, so viele Menschen, so viele Erfahrungen, Ereignisse, Eindrücke ... Ich kann gar nicht mehr damit aufhören, die Flut an Erinnerungen um mich herum auszubreiten wie den weiten Stoffumhang eines Mantels. Einen Mantel, wie ich ihn als Kind vor Augen hatte, wenn ich an einen König oder eine Königin dachte. Eingehüllt sitze ich in diesen Erinnerungen.

In diesen Momenten verliere ich das Zeitgefühl. Die Zeit im Jetzt verwebt sich auf undurchsichtige Weise mit der von früher, die Erinnerungen vermischen sich, die eine löst die andere auf. Nur punktuell kann ich sie beeinflussen, sie kommen und gehen, laden sich gegenseitig ein. Die eine berührt mich mehr, die andere betrachte ich fast von außen, wie die Zuschauerin eines Filmes oder Theaterstückes.

Ab und an kommt die Katze vorbeigestrichen und schnuppert an den Dingen, die ich bereits in die Kisten gelegt habe oder die noch ausgebreitet auf der Holzbank liegen. Als wüsste sie, wie besonders diese Stunden sind, schmiegt sie sich an meine Beine. Noch nie war mir so sehr bewusst, wie stark Erinnerungsgegenstände mit den Erinnerungen zusammenhängen. Natürlich, sie sollen erinnern, dazu sammeln wir sie ja auch, dafür kaufen wir ja auch Reiseandenken oder nehmen uns einen Stein vom Strandspaziergang mit. Aber dass sie in Anbetracht eines möglichen Verschwindens aus dem eigenen Leben (z.B. durch Verschenken, Verkaufen oder Wegschmeißen) noch einmal so sehr nach Aufmerksamkeit rufen, das hätte ich nicht gedacht.

Nein, sie rufen ja nicht wirklich. Ich höre ihnen vielmehr zu, während ich sie in die Hände nehme und ihnen meine geballte Aufmerksamkeit schenke. Das hatte ich lange nicht. Es ist schön, diese Erinnerungen zu haben – auch ohne diesen oder jenen Gegenstand. Ich habe ja alles in meinem Kopf, also brauche ich nicht so viel.

Manches hat seine Zeit gehabt und soll nun verbrannt werden, hat ausgedient. Oder ich will es einfach nicht mehr. Mit 30 wollte ich einige Briefe unbedingt aufbewahren, da hatten sie eine ganz wichtige Funktion. Nun, fast zwanzig Jahre später, dürfen sie getrost in Flammen aufgehen. „Alles hat seine Zeit“, sage ich mir immer wieder. Auch das hier. Ein langer Prozess ist es, dieses Heraussortieren, dieses Mich-frei-machen von so viel Ballast.

Und nun? Annehmen des Schicksals.

Aber warum muss ich denn überhaupt packen und aussortieren? Da gab es einen Ruck, eine Veränderung in meinem Leben. Eine Unterbrechung des Alltags. Ein Ruf im Sinne der Heldenreise.

Aber warum habe ich dieses Projekt eigentlich gemacht? Was war der Anlass? Mein Haus, welches ich einstmals für meine Tochter und mich gekauft habe, teilte ich später, blauäugig, verliebt und ein wenig eingetrübt durch eine gewisse rosarote Brille, mit einem anderen Menschen und lebte eine kleine Weile mit diesem Menschen zusammen.

Noch Jahre nach der Trennung gab es so etwas wie einen Rosenkrieg, der trotz diverser Friedensangebote kein Ende fand. Das Haus, einstmals ein wunderschöner Heimathafen, wurde zum Spekulationsobjekt. Eine Auszahlung war für mich zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich, die Zahlen überstiegen mein Budget und meine Möglichkeiten.

Vor meinem geistigen Auge sah ich es schon: Plötzlich wird das geliebte Haus gekauft und ich muss raus, vermutlich muss ich dann „schnell“ raus und habe noch keinen neuen Platz. Und ein neues Haus konnte ich mir nicht leisten, mein Kapital war noch in dieser jetzigen Immobilie gebunden. Und mein Herz blutete, denn keine neue Wohnsituation, die ich mir ausmalte, hielt dem Vergleich mit meinem Haus stand, indem ich das erste Mal in meinem Leben für mehr als 10 Jahre gelebt hatte. Eine fatale Situation, wie ich damals fand. Ich war traurig, fühlte mich in der Falle sitzend, ungerecht behandelt, als Opfer und bemitleidenswert. Aber ich hatte wirklich keine Idee, wo ich hinwollte. Dort im Ort bleiben, wo ich dann immer am alten Haus vorbeilaufen sollte? Nein, das nicht.

Eine Krise? Das Schicksal, das an die Tür klopft? Eine Chance, ein neuer Schritt?

Menschen, die Herausforderungen und Schwierigkeiten annehmen und sie als Chance für eine Veränderung sehen, die wissen, dass solche Herausforderungen zum Leben dazugehören und sie wissen, dass es normal ist, dass etwas ihr Denken und Fühlen durcheinander bringt, es sie tiefer als gewöhnlich erschüttert. Sie haben erfahren, dass es sogar gut ist, diese Erschütterung zuzulassen. Anschließend aber wird eine Neusortierung und Neuordnung ihrer eigenen Welt möglich, ihrer Gefühle, Werte, Glaubenssätze und Gedanken.

Die Autorin

Barbara Messer (Hannover) ist Bachelor of Business Administration, examinierte Altenpflegerin und verfügt über Ausbildungen in Sozialmanagement, Leitung Pflege, Validation und systemischen Strukturaufstellungen. Sie ist NLP-Master und -Trainerin sowie Ausbildungstrainerin für Suggestopädie und TMS® (Team Management System). Seit 1999 ist sie als selbstständige Trainerin tätig und hat bereits zahlreiche Fachbücher geschrieben.